Die Kollateralschäden der Bequemlichkeit - Einführungsrede
von Dr. Thomas Piesbergen

zu einer Ausstellung von Werner Schöffel
Werner Schöffel / Vagari #8 - Bilder aus dem Zyklus

Seit vielen Jahren wandert eine Figur durch das Werk von Werner Schöffel, eine einsame Figur, ein anonymer Wanderer, dessen Identität verborgen bleibt: Vagari, benannt nach dem Lateinischen Verbum für das Umherschweifen, namensgebend für den Werk-Zyklus, dessen achte Station wir in dieser Ausstellung sehen.

Der einsame Wanderer Vagari begegnet uns auf fast allen der sorgfältig inszenierten Fotografien als Rückenfigur. Niemals sehen wir sein Gesicht. Er erhält keine eigene Persönlichkeit, die eine unabhängige Dynamik entwickelt, er folgt keiner Narration, er steuert kein Ziel an, noch wird ein Ort angedeutet, von dem er fortgegangen ist. Genausowenig ist er ein Alter Ego des Künstlers.

Er verkörpert vielmehr zwei Prinzipien: das Prinzip der steten, unbehausten Bewegung und das Prinzip des Schauens.

Der Topos der Rückenfigur wird seit der Renaissance benutzt als Träger des Blicks, als im Bild befindlicher, anteilnehmender Stellvertreter des Betrachters vor dem Bild, so z.B. beim Fresko Stanza dell'Incendio di Borgo von Rafael oder später auf dem Gemälde Die Malkunst von Vermeer von Delft, das den Betrachter an dem Blick des Malers auf sein Modell und sein entstehendes Gemälde teilnehmen läßt.

Zitat Piesbergen
Vermeer van Delft, Die Malkunst, 1666
Während der Romantik entwickelt vor allem Caspar David Friedrich die Rückenfigur maßgeblich weiter zu einem Symbol des reinen Schauens, das von den beobachteten Naturschauspielen weitgehend abgekoppelt ist, und zum Ort eines inneren Ereignisses wird, das sich aber tatsächlich im Bildbetrachter abspielt. Die Rückenfigur ist hier vollständig zu einem Ort des Übergangs, einem Tor geworden, zu einem Träger unseres Blickes und unserer Empfindungen und Reflexionen.

Diesen Aspekt finden wir auch in der Figur des Vagari wieder: sie läßt uns schauen, sie nimmt für uns einen Blickwinkel ein und führt unseren Blick, sie bezieht Stellung.

Doch was ist der Gegenstand ihrer Betrachtung? An was für Orte führt uns die ewige Wanderung des Vagari?

Die ersten Abschnitte des Zyklus` führten Vagari vor allem in die Natur. Der Kontext des Einstellungsraums und des Jahresthemas „Park & Ride“ ließen ihn in eine vom seßhaften Menschen geprägte oder sogar geschaffene Landschaft zurückkehren.
Doch wir begegnen keinen Menschen, wir werden an keine Orte geführt, die das menschliche Leben beherbergen oder die Spuren eines lebendigen Miteinanders tragen.

Statt dessen sehen wir die konkreten und massiven Spuren, die die Bewegungsmuster der Menschen hinterlassen haben, und wir werden an Orte geführt, die nur dazu dienen - oder dazu gedient haben - die Art der Fortbewegung zu ändern; Orte, an denen der Mensch das eine Vehikel zurückläßt, um sich mit einem anderen fortzubewegen. Und schließlich sehen wir in Form von Autofriedhöfen am Rande der Straße Orte, an denen die Bewegung endgültig endet.
Und wir sehen, welchen enormen Raum dieser Stillstand einnimmt, gewaltige, leere Flächen, die einst geplant wurden, nicht um die faktische Mobilität zu ermöglichen, sondern nur um deren Abfallprodukt, den „ruhenden Verkehr“ aufzunehmen.

Vagari führt uns die manifest gewordenen Folgen einer zunehmend eskalierenden Mobilität vor Augen. Das, was wir sehen, sind die Verkrustungen und der Stillstand, die die Mobilität gleichsam einer Aus- scheidung absondert, erodierender Stillstand, in Zerstörung befindlicher Stillstand.
Und außer Vagari und uns, die wir stellvertretend durch ihn blicken, ist kein anderer Mensch zugegen, der diese immensen Zerfallserscheinungen am Rande der Mobilität, an den bröckelnden Ufern der Insel der Glückseligen bezeugen kann.


Und natürlich fragt man sich, wenn vielleicht auch nur im Stillen: wie konnten Menschen solche trostlosen, toten Unorte hervorbringen? Was für eine Kultur gebiert solche Landschaften? Sind diese Folgen der Mobilität schon vorher absehbar gewesen und deshalb auch gewollt oder wenigstens bei vollem Bewußtsein in Kauf genommen?

Gehen wir diesen Frage tiefer nach, stoßen wir schließlich auf einen Grunddisput der Kulturwis-senschaften: Welche Kräfte geben der Kultur und all ihren materiellen und immateriellen Erscheinungs-formen ihre Gestalt?

Vor allem seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert stehen sich in dieser Frage zwei Lager in einem steten Widerstreit gegenüber:
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Die 10. Ausstellung im Jahresprogramm Park&Ride des EINSTELLUNGSRAUM e.V.
Einführung: Dr. Thomas J.Piesbergen
Vernissage
Gefördert von der Kulturbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg und Bezirk Wandsbek