Die unscharfe Grenze zwischen Körper und Welt - Dr. Thomas Piesbergen zur Ausstellung „Acceleration Time of Desire" von Sophia Latysheva

Eines der grundlegenden Konstrukte unserer Wahrnehmung ist die Opposition von Selbst und Welt. Wenn der Akt einer Wahrnehmung stattfinden soll, so setzt das voraus, daß Etwas ist, während ein Anderes außerhalb von ihm ist, etwas, das es nicht selbst ist und deshalb wahrgenommen werden kann. Karl Jaspers bezeichnet diesen Sachverhalt als Subjekt-Objekt-Spaltung.
„Allen (…) Anschauungen ist eines gemeinsam: sie erfassen das Sein als etwas, das mir als Gegenstand gegenübersteht, auf das ich als auf ein mir gegenüberstehendes Objekt, es meinend, gerichtet bin. Dieses Urphänomen unseres bewußten Daseins ist uns so selbstverständlich, daß wir sein Rätsel kaum spüren, weil wir es gar nicht befragen. Das, was wir denken, von dem wir sprechen, ist stets ein anderes als wir, ist das, worauf wir, die Subjekte, als auf ein Gegenüberstehendes, die Objekte, gerichtet sind.“ (1)

Diese Spaltung, die mit dem Erwachen des menschlichen Bewusstseins, das immer auch ein Selbstbewusstsein ist, einhergeht, bringt die grundlegende Dichotomie von Welt und Mensch hervor.

In der abendländischen Kulturgeschichte hat sich diese Opposition unter dem maßgeblichen Einfluß der dualistischen Buchreligionen mit ihrer Trennung von Gottheit und Welt, zu dem Konzept einer grundlegenden Trennung von Geist und Welt entwickelt. Die philosophiegeschichtlich bis heute wirksamste Formulierung in diesem Zusammenhang stammt von Descartes, der die Grenze zur Außenwelt um das wahrnehmende Subjekt zog. Definierend für die Innenwelt seien die res cogitans, die Dinge des Denkens, das Außen bezeichnet er als die res extensa, das Darüber-Hinausgehende. Descartes betonte: „Die Außenwelt könnte ein bloßer Traum sein.“

Descartes definiert Geist und Welt also anhand ihrer Inhalte. Was er nicht beschreibt ist die Beschaffenheit der Grenze zwischen beiden Sphären, 
ebenso wenig berücksichtigt er den Prozess, in dem das eine in das andere übergeht. Er bezeichnet das Denkende als das „Ich“, aber den Prozess des Denkens selbst, den Prozess der Wahrnehmung, aus dem die Subjektivität ursprünglich hervorgeht, behandelt er nicht.
Die Unterlassung, diese Grenze zwischen Selbst und Welt genauer zu untersuchen, ist dem geistigen Milieu des frühen 17. Jhd. anzulasten. Da Geist und Welt als unvereinbar miteinander galten und die Körperlichkeit der profanen Sphäre zugeordnet wurde, konnte die Grenze zwischen dem Körperlichen und dem Geistigen, wenn überhaupt, nur Gegenstand metaphysischer Spekulationen sein, andernfalls hätte man zugeben müssen, es sei möglich, den Geist, also auch das Göttliche, sofern man seine Grenzen kenne, mit Mitteln der Vernunft zu erfassen oder sogar zu messen.

Erst in den letzten zwei Jahrzehnten wurde diese unüberwindlich scheinende Grenze zwischen Selbst und Welt, die Karl Jaspers ein unbefragtes Rätsel nennt, und die noch im Umfeld des radikalen Konstruktivismus der 1970er  als absolut galt, zusehends zum Gegenstand neurobiologischer, empirischer Forschung.
Allen voran hat sich der Neurowissenschaftler Antonio Damasio in seinen Untersuchungen über das Zustandekommen von Gefühlen auch mit dem Zustandekommen von Bewusstsein und Subjektivität auseinandergesetzt und das derzeit maßgebliche Modell vorgelegt, das die Grenze zwischen Innen- und Außenwelt nicht als digitalen Übergang beschreibt, sondern als ein Kontinuum.

Eine zentrale Rolle spielt dabei der Körper. Auch wenn diese Bedeutung auf der Hand zu liegen scheint, so haben wir dennoch ein tief verankertes kulturbedingt schizophrenes Verhältnis zu unserer Körperlichkeit. Denn wir betrachten den Körper einerseits als Teil der Dingwelt, die wir wahrnehmen können. Unserer abendländischen Denktradition zufolge ist er etwas Weltliches, Fleischliches,  und, dem christlichen Dogma folgend, etwas per se Sündhaftes, das von unserem geistigen Selbst geschieden ist.
Diese Vorstellung hat eine lange, persistente Tradition und liefert schließlich auch das ideologische Substrat für solche Konzepte wie den Posthumanismus,
Die  9. Ausstellung im Jahresprogramm Autonom? des EINSTELLUNGSRAUM e.V. 2022
Präsentation
Vernissage
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