würde, weil die synthetisierende Dynamik des Zeichnens nicht der augenblicklichen Erfassung der Wirklichkeit durch den Fotoapparat entspricht. Im Unterschied zu einem in Sekundenbruchteilen belichteten Chip oder einen Film, der einen zeitlich und räumlich begrenzten Ausschnitt abbildet, der aber auch durch Unschärfen oder plötzlich auftauchende Hindernisse am Straßenrand verunklärt werden kann, löst der Blick aus beiden Augen solche Hindernisse auf. Das Gehirn rechnet sie heraus, so dass sich in der Vorbeifahrt ein plastisches Objekt im Bewusstsein konstituiert, das zudem durch eine Absicht - also ein Erkenntnisinteresse - geleitet ist. Diese Sicht auf die Sturzbäche, das Geröll und die Klüfte einer Gebirgslandschaft sondiert die Landschaft und setzt die Akzente, die zeichnerisch erfasst werden.

2. Die Plastizität der Gebirgsbäche
Ein Blick auf die Blätter, welche die Flüchtigkeit einer Vorbeifahrt fixieren, zeigt das zeitliche Geschehen als ein räumliches Konstrukt, das im Fokus des Blicks der Künstlerin auf ein Blatt zusammengezogen wurde. Beim genauen Studium der Blätter erkennt man vertikale und diagonale Linien sowie Linienbündel, die durch kurze energische horizontale Linien unterbrochen, verdickt und abgestuft sind. Diese Querbewegungen mit ihren Ver- knotungen erzeugen den Eindruck von Stufen, Kaskaden oder Schwellen und machen die Unterbrechungen im Abwärtsströmen von Wasser, Schutt und Schlamm sichtbar. Das ist der Knackpunkt, um den es hier geht: Es geht um die Frage, wie der Abbau von Material aus den Bergen vor sich geht, oder geologisch gesehen, wie die Berge zum Flachland werden.

Die kontinuierlich wirkende Gravitation hat ihre Konjunkturen im Wechsel des Wetters, der Jahreszeiten und der Erdzeitalter. Das ist aber noch nicht alles. Die Abstufung der Vorgänge korrespondiert mit den plastischen Eigenschaften des Materials. Baumstämme, die zu Tal geflößt werden, stellen sich quer in einer Schlucht, stärkere Äste und Zweige verfangen sich an Kaskaden und die dort wirkenden Strudel sammeln kleines Material ein, mit dem die Hohlräume dieser natürlichen Staustufen verstopft werden, in denen Steine, Felsbrocken, weitere Äste, Zweige und Gestrüpp hängen bleiben. Diese Geflechte können die Erosion  zwar nicht stoppen, aber sie bremsen die Talfahrt von Materie.
.

3. Zeichnen, wie Erosion wirkt
An diesen Stellen ist die Natur der Zeichnerin vorausgeeilt und hat

in den Abwärtsbewegungen Verdickungen gebildet, die den gekritzelten Knoten innerhalb der vertikalen Linien entsprechen. Die Qualität dieser Arbeiten ist die Durchwirkung der verschie- denen Materialien zu einem Geflecht von Zeichen und die damit verbundene Formbildung. Diese direkte Annäherung an das Material steht zudem vielen heutigen Positionen in der Land- schaftskunst entgegen, die mit Material und Formen spielen aber die Betrachter darüber im Zweifel lassen, was Natur ist und was von Menschenhand gemacht ist. Es handelt sich meist um eine ironische Abstandnahme, die vom bereits Abgebildeten schma- rotzt, um es zu reproduzieren und mit neuen Oberflächen zu überziehen. Schlafke bildet stattdessen zeitliche Abläufe mit unmittelbaren zeichnerischen Mitteln heraus. Sie setzt auf die Übereinstimmung von Prozessen in der Natur mit Prozessen des künstlerischen Tuns. Darauf möchte ich zu sprechen kommen, indem ich der Verwandtschaft zwischen der Dynamik der zeichnerischen Prozesse und denen der Erosion im Hochgebirge zu folgen versuche. Damit hängt auch die Frage zusammen, warum es sinnvoll ist, diese zeichnerisch zu erfassen, ohne Mittel der Hochtechnologie in Anspruch zu nehmen1.

a. Was die Zeichnung der Fotografie voraus hat
Wenn aus dem fahrenden Auto heraus fotografiert wird, erhält man mit einer kurzen Belichtung einen Ausschnitt aus dem Bewegungskontinuum. Ist die Belichtung länger, wird das Foto verwischt, was durchaus ästhetische Reize hat und deshalb in der Bewegungsfotografie durch Zoomen, Mitziehen, Heranfahren und ähnlichen Fotografiertechniken kultiviert wurde. Allein: die Fotografie bleibt trotz aller Perfektion, die erzielt wurde, immer begrenzt, weil die Kamera nur ein Objektiv hat. Ich will jetzt nicht über Stereofotografie sprechen, denn diese ist aufwendig und vor allen Dingen umständlich zu betrachten. Tatsache bleibt, dass ein Mensch mit seinen beiden Augen besser durch Gestrüpp blicken kann als eine Kamera, erst recht wenn er sich bewegt. Dann nämlich huschen die Dinge im Vordergrund vorbei, während sich die entfernteren Objekte nur träge verschieben. Versucht man dieses Phänomen aus der Bewegung um einen Gegenstand oder einen Landschaftsausschnitt zeichnerisch zu konstituieren, so entsteht ein plastisches Gebilde, was bereits Umberto Boccioni in seinem Manifest über den Plastischen Dynamismus erkannt hat. Um diese Komplexität zu erfassen, sind die menschlichen Sinne, die in besonderer Weise mit den formgebenden Fähigkeiten der Hände verbunden sind, nach wie vor unübertroffen, auch wenn sie
next
mehr Bilder der Installation                                       Vernissage

1  Es geht hier um den Aufwand, und gemessen daran sind die Möglichkeiten der Zeichnungen noch nicht ausgeschöpft. Deshalb bestreitet Horst Bredekamp, dass die Handzeichnung wegen der „unübertragbare(n) Komplexität und Dynamik“ je durch digitalen Technologien vollständig ersetzt werden kann. Denkende Hände. Überlegungen zur Bildkunst der Naturwissenschaft, in: Räume der Zeichnung. Akademie der Künste, Berlin 2006, S. 21-24,
Gefšrdert von der Kulturbehšrde der Freien und Hansestadt Hamburg und Bezirksamt Wandsbek
back