Kulturgeschichte gegangen und hat schließlich über die metaphysische Philosophie auch Eingang in die Wissenschaft gefunden.

Für den Kontext der ethnologischen Wissenschaftsgeschichte kann Jonathan Swift mit den „Feldstudien“ Gullivers als literarischer Pionier der Bemühungen gelten, den fremden Blick auf uns selbst nachzuvollziehen. In China hat Li Ju-Tschen 1827 mit seinem Roman „Im Land der Frauen“ ebenfalls den Blick auf die eigene kulturelle Praxis im Spiegel einer fiktiven Ethnie gerichtet. Ebenfalls ein prominentes Beispiel dieser Perspektivumkehr ist das Buch „Papalagi“ (1920) von Erich Scheurmann, in dem ein Südseehäuptling von seiner Reise zu den grotesken Europäern berichtet. Neuere Beispiele sind „Traumatische Tropen“ und „Traurige Insulaner“, in denen der Ethnologe Nigel Barley zuerst von seinem am Bias gescheiterten Versuch einer Feldforschung berichtet, anschließend von seinem ethnologischen Blick auf die seltsamen Engländer.

In der ethnologischen Wissenschaft hat diese Gedankenlinie der Selbstreflexion und Perspektivumkehr schließlich zu der Aufarbeitung der eigenen Geschichte geführt, vor allem vor dem Hintergrund der Kolonialgeschichte; so kommt es z.B., daß das Museum für Völkerkunde in Hamburg, das etwas sperrig umbenannt worden ist in „Museum am Rothenbaum. Kulturen und Künste der Welt“, in manchen Räumen seiner
klassischen Sammlungen die Geschichte ihres Zustandekommens, die Biographien seiner vergessenen Mitarbeiterinnen oder aus Unsicherheit über den eigenen Standpunkt auch einfach mal gar nichts ausstellt.

All diese Versuche, durch Perspektivverschiebung oder -umkehr einen Blick auf den eigenen blinden Fleck zu erhaschen und unsere eigene kulturelle Praxis tatsächlich „objektiv“ wahrzunehmen, enthüllen, wie es tatsächlich um unsere eigene, vorgebliche Rationalität bestellt ist. Denn auch in der aufgeklärten, wissenschaftsgläubigen westlichen Zivilisation treffen Menschen ihre Entscheidungen fast immer irrational und ihrem sozio-kulturellen Habitus entsprechend.

Prof. Hermann Knoflacher arbeitete auf diesem Feld beispielhaft über die Irrationalität des Autofahrens, für das jeder Automobilist zahllose, völlig vernünftige und nachvollziehbare Gründe angeben könnte - solange er sich innerhalb der Konventionen unserer etablierten Alltagsrealität bewegt. Tatsächlich aber treiben ihn fast ausschließlich archaische Mechanismen an sein Lenkrad, in einer Welt, die konstant im Sinne der Automobilität, nicht im Sinne der Menschen, also eigentlich irrational, umgestaltet wird.

Der Begriff des Auto-Fetischismus ist inzwischen weit verbreitet. Er bezeichnet im Volksmund aber nicht mehr als eine besondere Begeisterung für das Automobil. In der ethnologischen  Religionsforschung hingegen bezeichnet der Begriff des Fetischismus den Glauben an übernatürliche Geister oder Mächte, die sich an bestimmte Gegenstände binden und in ihnen verehrt werden. Indem man einem solchen Gegenstand Opfer und Geschenke bringt, erhöht man die hilfreiche Macht des an ihn gebundenen Geistes, man lädt sozusagen seine übernatürliche Batterie auf, damit er wieder in unserem Sinne magisch auf unsere Umwelt einwirkt, was ohne weiteres als Metapher für das Verhältnis der meisten Autofahrer zu ihrem Wagen dienen kann. Denn die Funktionen, die Automobile erfüllen, gehen deutlich über die reine Fortbewegung hinaus. Sie sollen vielmehr tief in unsere gesellschaftlichen und persönlichen Beziehungen hinein wirken und uns als Verkörperung hilfreicher Mächte dienlich sein.


Der Künstler Bernhard Schwank beschäftigt sich in seinem langfristigen Projekt „Die ethNokonstruktivistische Sammlung“ schon seit langer Zeit mit der Inversion der ethnologischen Perspektive und überträgt unsere Alltagsroutinen aus ihrem rationalistischen, linearen Zusammenhang in eine hypothetische, nicht-lineare Kultur. Was wäre, wenn unsere kulturelle Entwicklung, trotz wissenschaftlicher Fortschritte, niemals ihre archaische, mythologische und zyklische, also ahistorische Struktur verlassen hätte?

Im Stil einer klassisch musealen Präsentationen zeigt Schwank Objekte, die unsere „normalen“ Handlungen transformiert zu heiligen Ritualen in einer zyklischen, mythisch geordneten Realität erscheinen lassen. Durch diese Verschiebung und Überzeichnung gelingt es, das volle Ausmaß der Irrationalität unseres Alltags freizulegen. Denn selbst wenn wir vorgeben zu wissen, daß unsere kollektive Wirklichkeit linear voranschreitet, handeln doch die meisten von uns so, als könne man den derzeitigen Status Quo bis in alle Ewigkeiten erhalten, als gäbe es keine linearen, unumkehrbaren historischen Prozesse,
als könne man wider besseres Wissen immer so weiter
Präsentation

Die 04. Ausstellung zum Jahresprogramm SPRIT  und SPIRIT des EINSTELLUNGSRAUM e.V. 2020
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