Bringt man diese beiden Aussagen in einen Kontext, offenbart sich allerdings das Dilemma aller Welterklärungen, zu denen wir uns getrieben fühlen. Der existentielle Augenblick, das Sein des Seienden, ist nicht benennbar, denn es ist das unteilbare Ganze. In dem Moment, in dem die Sprache ins Spiel kommt, wird die Symmetrie des All-Einen gebrochen, denn Sprache differenziert. Sie läßt die „zehntausend Dinge“ aus dem ungeteilten Sein hervorgehen. Jeder Versuch einer Versprachlichung geht also einher mit einer Entstellung der eigentlichen Erfahrung des Seins. So entwickelten sich zwangsläufig an verschiedenen Orten, obwohl von einer identischen Erfahrung und Problematik ausgehend, verschiedene Übersetzungen der initialen Erfahrung in Sprache.
Im Prozess ihrer Tradierung begannen diese Versprachlichungen eine, von ihrer jeweiligen Struktur abhängige, eigenständige Dynamik zu entwickeln, mit dem Ergebnis, dass schließlich verschiedenste religiöse Systeme einander unvereinbar gegenüberstehen, obwohl sie alle in der gleichen Grunderfahrung ihren Anfang genommen und sich mit dem gleichen Ziel entwickelt haben.
Der Schriftsteller und Wissenschaftsjournalist Robert Anton Wilson vergleicht diesen Prozess der Abstraktion, den bereits Heidegger als die Wurzel des Übels der Religion und Metaphysik bezeichnete, mit dem Erstellen einer Landkarte und der anschließenden Verwechslung von Landkarte und Landschaft, von Modell und Wirklichkeit. So ist es zu erklären, dass verschiedenste religiöse Traditionen, denen allen die Vorstellung des Göttlichen, oder spezifischer sogar das Konzept eines einzigen Gottvaters zugrunde liegt, sich gegenseitig bis aufs Blut bekämpfen. Denn sie halten ihre jeweiligen Welterklärungen nicht für einen spezifischen Versuch der Versprachlichung einer grundsätzlichen Erfahrung mit dem Numinosen, sondern für die höhere Wahrheit an sich. Sie haben die Landkarte mit der Landschaft verwechselt.
So verhindern also, um zu dem zen-buddhistischen Text zurück zu kehren, unsere Versuche, die Welt zu erklären, die tatsächliche und unverfälschte Erfahrung der Welt, zu der uns die Welterklärungen eigentlich führen sollen.

Ähnliches wiederholt sich in der Wissenschaft. Auch hier konkurrieren zahlreiche Theorien miteinander, werden immer wieder Modelle mit der Wirklichkeit verwechselt und als Wahrheiten missverstanden, vor allem, sobald sie popularisiert werden. Davon sind auch nicht selten die Wissenschaftler selbst betroffen, wenn sie sich nicht von ihren persönlichen Eitelkeiten lösen können, wenn sie dem horror vacui erliegen, also der Angst sich eingestehen zu müssen, trotz ihrer Bemühungen mehr Fragen als Antworten aufgeworfen zu haben, oder wenn sie ihre Ideen
in ideologisch gesteuerten Kontexten entwickeln und nicht begreifen, dass ihre Art, die Welt zu erklären, nur eine mögliche Interpretation der Erscheinungen darstellt.

Doch ist die Wissenschaft als übergeordnetes System davon kaum betroffen, da ihr Treibstoff der Zweifel an sich ist, das heuristische Prinzip, demzufolge alle Ergebnisse nur vorläufig sind. Und schließlich bringt sie auch immer wieder Perspektiven hervor, mit denen sie sich selbst hinterfragt, wie es die Kopenhagener Deutung der Quantenphysik tut, die unter anderem zum Inhalt hat, dass die Physik weniger die Wirklichkeit beschreibt, sondern vielmehr unsere Mittel, mit denen wir versuchen, die Wirklichkeit zu beschreiben; eine Wirklichkeit, die sich auf der subatomaren Ebene allen logischen Kategorien unseres Denkens entzieht - genauso wie es vom Tao gesagt wird.

Dennoch bleibt unser Alltagsbewusstsein befangen in den Prozessen der Rekapitulation, der Suche nach Mustern, der Abstraktion, der Modellbildung, der Antizipation und der Formulierung von Welterklärungen, die uns doch nur den Blick auf die Welt, wie sie tatsächlich ist, versperren.
In einem Brief an Jehan Myoux von 1956 schrieb Marcel Duchamp: „All dieser Mumpitz, die Existenz Gottes, Atheismus, Determinismus, Befreiung, Gesellschaft, Tod etc., sind Teile eines Schachspiels namens Sprache, und sie sind nur dann amüsant, solange man nicht zwanghaft damit beschäftigt ist, dieses Schachspiel zu gewinnen oder zu verlieren.“

Diesem Zwang, die Welt zu erklären oder sie erklärt bekommen zu wollen, der Angst, dem Unerklärlichen gegenüber zu stehen und es durch verständliche, doch zugleich unangemessene Modelle zu ersetzen, tritt Thomas Rieck mit seiner Kunst entgegen. Und so vielfältig die Behauptungen über den tatsächlichen Zustand der Welt sind, so vielfältig sind seine Ansätze, unsere Alltagskonzepte der Wirklichkeit zu untergraben.

In den letzten Jahren wendet Rieck immer wieder die Strategie der Fotoübermalung an. Die scheinbar objektiven, dokumentarischen Darstellungen dienen jeweils nur als Impulse für sich frei daraus entwickelnde Formen, Entstellungen und Projektionen. Dabei kann ein Foto Ausgangspunkt für ganze Serien unterschiedlichster Bildwerdungen sein. Denn all das, was uns begegnet, ist immer Gegenstand unserer Interpretation. Und die möglichen Interpretationen unterscheiden sich nicht nur von Mensch zu Mensch, sondern auch wir interpretieren die gleichen Impulse zu unterschiedlichen Zeitpunkten je nach Zusammenhang und unserer Verfassung auf völlig unterschiedliche Art und Weise.
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