Prominent in diesem Werkkomplex sind vor allem Gesichter. Bereits in seinem Werk „Orator“ schreibt Marcus Tulius Cicero: „Das Gesicht ist ein Abbild der Seele.“ - und auch wir gehen meist davon aus, in dem Gesicht eines anderen Menschen seinen Charakter, seine Gefühle, seine Motivationen ablesen zu können. Zwar sind wir dank der Spiegelneuronen gut ausgestattet, die physischen Vorgänge der Gesichtsmuskulatur nachzuvollziehen und aus ihrer Rückkoppelung mit unserem selbstbeobachtenden Geist auf innere Vorgänge zu schließen, doch bleiben diese empathischen Rückschlüsse trotzdem immer nur Konstruktionen. Entsprechend entziehen sich die Gesichter Thomas Riecks allen deutenden Zuweisungen; ihre Mimik ist rätselhaft, mehrdeutig und wirkt dadurch nicht selten verstörend. Unsere Vorstellung, aus dem Antlitz des Anderen etwas Konkretes über seine innere Wahrheit heraus lesen zu können, wird als vergeblicher Versuch entlarvt.

Ein anderes Verfahren Thomas Riecks ist das Zeichnen mit geschlossenen Augen. Der horror vacui, den wir mit Schmerzvermeidung oder Sinnkonstruktion versuchen auszulöschen, wird durch die absichtslose Lust an dem kinetischen Prozess überwunden, der nur sekundär eine Gestaltung hervorbringt. Diese dient wiederum als Ausgangspunkt für einen offenen Prozess der Bildsuche.
Solche offenen Prozesse können auch von verschiedenen Materialien mit bereits vorhandenen Irritationen ausgelöst werden oder von Vorgehensweisen, die an das Erstellen von Rorschach- Tests erinnern. Zufällige Kleckse, Spritzer und andere Verunreinigungen liefern Impulse für die Improvisation.

Die Motive, die schließlich in die Bilder finden, erinnern in ihrer Rätselhaftigkeit oft an verbildlichte Träume oder Illustrationen für groteske Märchen. Immer wieder treffen Dinge aufeinander, die offensichtliche oder bekannte Kontexte vermissen lassen, die uns zwingen, selbst Zusammenhänge zu konstruieren, deren Absurdität uns aber gleichzeitig die Vergeblichkeit aller eindeutigen Deutungen vor Augen hält.

Solche Diskrepanzen erzeugt Thomas Rieck häufig auch mit einer inkongruenten Kombination von Bild und Schrift. Unser suchender Geist ist bemüht, Narrationen aus den Text-Bild-Gefügen abzuleiten, sucht nach Anlehnungen an kulturell überlieferte Muster, doch findet sich schließlich immer nur wieder in dem noch leeren Denkraum der unvereinbaren Elemente, der dazu zwingt, das nicht entschlüsselbare Dargestellte zu transzendieren. Der Rezipient kann sich selbst bei der Konstruktion von neuen Narrationen beobachten, in vollem Bewusstsein, dass sie lediglich Möglichkeiten darstellen, niemals aber einen konkret intendierten Sinnzusammenhang enthüllen können, der a priori nicht existiert.

Eine in jüngster Zeit besonders häufig genutzte Motivgruppe sind Tiere. Hier vermeidet Thomas Rieck gezielt alle Zusammenhänge der Domestikation, die z.B. beim Hund zur Herausbildung einer differenzierten Muskulatur der Augenbrauen geführt hat, die dem Wolf fehlt, weshalb Hunde mittels ihres „Hundeblicks“ mit uns kommunizieren können; eine Fähigkeit, die wir bei Wölfen vermissen und ihnen deshalb intuitiv Wildheit zusprechen. Rieck versucht den dargestellten Tieren diese Wildheit, diese Fremdheit zurück zu geben, die es unmöglich macht, sie zu anthropomorphisieren und damit zu vereinnahmen. Aus diesem Grund wählt er mitunter auch Spezies, die inzwischen ausgestorben sind und dem Menschen höchstens als seltene und gefährliche Jagdbeute begegnet sind, wie die Mammuts.

So können wir dem Werk Thomas Riecks, und, durch es hindurch blickend, der Konstruktion unserer kulturellen Wirklichkeit, sofern wir nicht bereit sind, ihren scheinbar sicheren Grund zu verlassen, nur mit Befremden begegnen, mit Schrecken und Verstörung - oder aber mit einem läuternden Gelächter, das uns in eine vielleicht unheimliche, aber gleichzeitig allumfassende Freiheit entlässt, in der schließlich eine Begegnung mit dem Sein des Seienden, das Erleben des existentiellen Augenblicks möglich scheint.

© Dr. Thomas Piesbergen / VG Wort, November 2020 
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