Thomas Piesbergen

Die Rück-Verrätselung der Welt

Zur Ausstellung „Übungsraum zur Verinnerlichung surrealistischer Annahmen“
von Thomas Rieck, im Einstellungsraum e.V.



Am Anfang der menschlichen Kultur, am Anfang der Menschwerdung schlechthin steht, dem Neurowissenschaftler Antonio Damasio zufolge, das Gefühl. Damasio beschreibt die Gefühle als die Wahrnehmungen körperlicher Steuerungsprozesse, die die Homöostase gewährleisten sollen. Die Homöostase wiederum ist das Grundprinzip der Selbstregulation proto-organischer und organischer Systemen und soll ihnen ein innerhalb bestimmter Grenzen gleichförmiges Fortbestehen sichern.

Voraussetzung für alle homöostatischen Prozesse ist die Fähigkeit eines Systems, auf das umgebende Milieu zu reagieren. Dabei spielen schon seit der Evolution der Bakterien zwei Prinzipien eine zentrale Rolle: Die Vermeidung von Schädigungen und Verletzungen und die Bevorzugung von Bedingungen, die ein bestmögliches Gedeihen des Organismus ermöglichen. In menschliche Begriffe gekleidet kennen wir diese beiden Komplexe als die Affekte Schmerz und Lust. Bereits auf der Ebene der Bakterien sind sie für flexible und hoch differenzierte Reaktionsmuster verantwortlich.

Im Laufe der Evolution entwickelte sich ein immer vielschichtigeres und stärker vernetztes Zusammenspiel von zunehmend spezialisierten Zellen, die nicht nur immer ausgereiftere Sinnesorgane an der Schnittstelle zur Außenwelt hervorbrachten, sondern auch immer feiner abgestimmt Möglichkeiten, die inneren, organischen Vorgänge wahrzunehmen und mit affektiv gebündelten Reaktionen darauf zu antworten. Ein tatsächliches Bewusstsein entstand aber erst in dem Moment, in dem unser Nervensystem die Fähigkeit entwickelte, die Vorgänge der körperlichen Regulierung durch Affekte auf einer Metaebene an sich selbst und schließlich auch an anderen wahrnehmen zu können.
Die bewusste Wahrnehmung dieser Zusammenhänge von äußeren Impulsen und körperlicher Reaktion bilden sich in unserem Geist als Gefühle ab. Die Ausbildung dieses Bewusstseins und der komplexeren Gefühle geht wiederum einher mit der Fähigkeit, Erinnerung zu bilden und sie mit den homöostatischen Zielen des Gedeihens und der Schmerzvermeidung in die Zukunft zu projizieren. Auf diesem Weg begreift das organische Bewusstsein erstmals sich selbst und auch Andere als Wesen, die in einem zeitlichen Vollzug befindlich sind.

An diesem Punkt ereignet sich nun etwas, das der Psychologe und Psychohistoriker Luigi de Marchi als den „Urschock“ bezeichnet: Die Erkenntnis der eigenen Zeitlichkeit, des eigenen Todes. Doch neben dieser entscheidenden Einsicht, die dem selbstregulierenden Komplex des Schmerzes angehört, entstand auch gleichzeitig die weitaus subtilere Erfahrung des Lebendig-seins, die den homöostatischen Aspekt des Gedeihens repräsentiert, und die Heidegger die Erfahrung des „existentiellen Augenblicks“ nennt.

Diese beiden Erfahrungen - der Schock angesichts des individuellen Todes und das große Wunder des Seins - nötigen den Menschen dazu, sich eine Erklärung der Welt zu konstruieren. Ihr Zweck ist es einerseits, die Angst vor dem Tod abzuwehren, worin Luigi de Marchi den Ursprung aller Religion und Welterklärung sieht.

Andererseits veranlassen uns die homöostatischen Prozesse, die mit dem Gedeihen befasst sind und unsere positive Neugier auf die Welt verursachen, das Wunder des Seins ergründen zu wollen, um durch tiefere Einsicht die bestmöglichen Bedingungen für unser zukünftiges organisches Gedeihen und das Fortbestehen der Spezies zu schaffen. In diesem Mechanismus sieht der Religionswissenschaftler Frederic Spiegelberg den Ursprung aller religiöser Systeme: „Zum Wunder des Seins erwecken, das ist das einzige, wahre Thema aller Religionen.“

Doch dieses Wunder des Seins, Heideggers „existentieller Augenblick“, ist, nach einem zen-buddhistischen Text, „zu deutlich, deshalb dauert es so lange, bis man es sieht.“
In Ansgar Gerstners Übersetzung des Dao Dejing heißt es im ersten Vers: „Ein Dao, von dem man reden kann, ist nicht ein beständiges Dao. Ein Name, den man nennen kann, ist nicht ein beständiger Name. Das Namenlose ist der Anfang von Himmel und Erde. Das Benannte ist die Mutter der "zehntausend Dinge".“
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