Das Selbst im Spiegel der Welt - Einführungsrede zur Ausstellung "Gabriela Goronzy - Lebendigkeit" von Dr. Thomas Piesbergen
Die Ausstellung "Lebendigkeit - 100 Zeichnungen" von Gabriela Goronzy in der Galerie des Einstellungsraum e.V.  findet statt im Rahmen des Jahresthemas "Regeln regeln. Regeln regeln!"

Mit den kulturellen Umwälzungen, die die Renaissance mit sich gebracht hat, erschien auch ein neuer Topos im Repertoire der Bildenden Kunst: Das Selbstportrait.

Aus den Epochen davor sind nur umstrittene oder sogar nur in Berichten überlieferte Einzelfälle bekannt. So soll der Bildhauer Phidias sich selbst als Figur auf dem Schild der Athene abgebildet haben. Auch aus dem Mittelalter gibt es nur zwei Beispiele, die vom Maler Johannes Aquila stammen, der sich auf Kirchenfresken im österreichischen Radkersburg und dem slowenischen Matjanci verewigt hat.

Doch erst in der Renaissance, in der das zuvor im Kollektiv eingebundene Individuum wiederentdeckt worden ist, begannen Maler den Blick intensiv auf sich selbst zu richten, zunächst meist nur verborgen oder in Gruppenbildern versteckt, doch schon bald als eigenständiges Thema. Seitdem durchzieht das Selbstportrait die Kunstgeschichte wie ein roter Faden und ist in der Gegenwart in Form des Selfies allgegenwärtig geworden.

Zwar kann man für die Frühzeit vermuten, dass Künstler oft aus Kosten-gründen nicht an dem Gesicht eines Modells, sondern an dem eigenen die menschliche Physiognomie studiert haben, doch legen die Darstellungen schon bald Zeugnis ab von einer Suche nach Selbsterkenntnis, meist mit der Konnotation des memento mori. Oder sie dienen der Selbstdarstellung, in der nicht nach dem
Ist-Selbst gesucht wird, sondern ein Wunsch-Selbst konstruiert wird, in dem Bestreben, vielleicht irgendwann die geschaffene Vision des Selbst ausfüllen zu können.

Die bloße Frage nach dem individuellen Selbst weist eine sehr viel deutlichere Traditionsspur auf und findet in Europa ihren frühesten markanten Ausdruck in dem Diktum „Gnothi seauton“: Erkenne Dich selbst!, das im 5. Jhd. v. Chr. als Inschrift in der Vorhalle des Tempels von Delphi angebracht worden war.

Der Blick auf das Selbst wird im delphischen Orakel in den Dienst der Welterkenntnis gestellt, in dem vorausgesetzt wird, dass die Vorgänge in unserem Geist den Vorgängen in der äußeren Welt entsprechen und dass die Art und Weise, wie wir Dinge ordnen und bewerten, allgemeingültigen Prinzipien folgt. Das Selbst wird zum Spiegel der Welt.

Übertragen wir diese Idee auf die Kulturtheorie befinden wir uns unversehens mitten in dem maßgeblichen Diskurs über das wechselwirkende Verhältnis von Identität, Kultur und Umwelt.
Zunächst wäre die zentrale These des Determinismus zu nennen: Die Handlungsmuster, die Selbstwahrnehmung und damit auch die Identität des Menschen werden demnach von seiner Umwelt geprägt. Die Kultur lässt sich entsprechend aus der Natur ableiten. Indem er sich selbst erforscht, begreift der Mensch, wie die Welt ihn geformt hat.
Bei einem Realitätsabgleich müssen wir jedoch sehr rasch einsehen: Unsere heutige Lebenswelt ist vor allem von uns Menschen geprägt, und das nicht nur passiv, sondern auch aktiv. Und in der hochdifferenzierten postindustriellen Gesellschaft beobachten wir, wie innerhalb eines gesellschaftlichen Gefüges verschiedene kulturelle Realitäten nebeneinander bestehen, obwohl sie in derselben, vom Menschen geschaffenen Umwelt fortbestehen.

Hier greifen die dem historischen Materialismus und Determinismus entgegengesetzten Denkrichtungen des Possibilismus und Strukturalismus, die der Hypothese, die menschliche Kultur erhalte ihre Struktur durch Anpassung an natürliche Gegebenheiten, entschieden widersprechen. Ihre Annahmen besagen statt dessen, erst die Struktur des menschlichen Denkens weise den Dingen der Umwelt Bedeutung zu, die Kultur überforme die Natur, und so schaffe der Mensch aus sich selbst heraus seine kulturelle Umwelt.

Die 07. Ausstellung zum Jahresprogramm Regeln regeln. Regeln regeln! 2019 des EINSTELLUNGSRAUM e.V.
Präsentation
Vernissage
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