Diese Muttergottheit begegnet uns alles beherrschend wieder im jungsteinzeitlichen Catal Hüyük in Form der großen schwangeren Herrin der Tiere auf einem Leoparden-thron. Die Grabbefunde in Catal Hüyük legen wiederum nahe, dass die Rolle der Frau in der Gesellschaft dominierend war. Sie war die Herrscherin über das Haus, über die Siedlung, über die Bedrohungen aus der Wildnis (6).
Diese Große Göttin ist in der gesamten Jungsteinzeit bis in die frühe Bronzezeit ein maßgebliches Bildthema und begegnet uns im minoischen Kreta ein letztes mal in dominierender Position. Mit entblößten Brüsten hält die kretische Göttin zwei Schlan-gen, Symbole des ewigen Lebens, in die Höhe. So wie die Göttin werden auch alle anderen Frauen auf minoischen Vasenmalereien und Fresken mit zur Schau gestellten Brüsten abgebildet (7). Sie werden in der Regel als Priesterinnen gedeutet.

Für alle Kulturen dieser Traditionslinie gilt, dass die Frauen offenbar eine mindestens gleichberechtigte sozio-politische Rolle gespielt haben, wenn sie nicht sogar das gesellschaftliche und religiöse Leben bestimmten. Zudem gibt es keinerlei Hinweise darauf, dass die Schöpfer der genannten Darstellungen Männer gewesen sein müssen.

Die Entscheidung, den weiblichen Körper zu entblößen, wird mit der größten Wahrscheinlichkeit also von Frauen gefällt worden sein, ebenso wie der Blick auf den weiblichen Körper ebenfalls ein weiblicher gewesen sein wird. Die Selbstentblößung muß also gelesen werden als ein Akt, in dem sich Selbstsicherheit und Stolz auf die eigene Geschlechtlichkeit und deren soziopolitische Machtfülle ausdrücken.
Zeigte im minoischen Kreta oder im frühen Mykene eine Frau ihre Brüste, präsentierte sie selbstbewusst das, was ihre unantastbare gesellschaftliche Stellung legitimierte.

Die mythologische Entwicklungslinie der Großen Göttin wurde schließlich von  indoeuropäischen Invasoren aus Zentralasien langsam aber erbarmungslos zurück gedrängt. Im mykenischen Griechenland konnte die Frau ihre gesellschaftliche Rolle noch eine zeitlang mit Rückgriff auf die minoische Kultur und Tracht bewahren, doch die politische und ökonomische Macht ging mehr und mehr in die Hände der Männer über (8). Die Darstellungen von Priesterinnen und Göttinnen wurden langsam von männlichen Figuren ersetzt, so z.B. von Zeus, der in der mykenischen Frühzeit noch eine unbedeutende Nebengottheit war (9)
Im klassischen patriarchalen Athen schließlich war die öffentliche, rituelle Nacktheit nur noch Männern vorbehalten, während sie für Frauen als anstößig galt. Tatsächlich wurde der Frau nicht nur vorgeschrieben, ihren Körper verhüllt zu halten, sondern ihr ganzes Leben sollte sich bestenfalls in den Mauern des Hauses abspielen, das sie nur zu rituellen Festen und in Begleitung verließ (10). Selbst in der Kunst, die nun nachweislich nur noch von Männern geschaffen wurde, galt die gänzliche Entblößung der Frau als skandalös, wie im Falle der knidischen Aphrodite des Praxiteles. Diese berühmte Plastik wurde vor allem Vorbild für die Abbildung von Hetären, also Prostituierten am Rande der Gesellschaft, deren Nacktheit alles rituellen Kontextes beraubt war (11). Sie ist nicht mehr als weibliche Selbstentblößung anzusprechen, sondern als männliche Zurschaustellung des weiblichen Körpers, der sonst unzu-gänglich ist, also als pornographisch.

Wir erleben in der Antike eine Inversion des Verhältnisses von Macht und Nacktheit. Während in den bronzezeitlichen Kulturen die Frauen noch die Kontrolle über die Darstellung des eigenen Körpers hatten und die Selbstentblößung als Demonstration ihres privilegierten Standes nutzten, war diese Verfügungsgewalt in der Klassik auf die Männern übergegangen und die weibliche Nacktheit nur noch Gegenstand der Zur-schaustellung (12), um dem männlichen Verlangen einen Ersatz für die reale Begegnung zu schaffen.

Im levantinischen Komplex, aus dem die drei großen Buchreligionen hervorgegangen sind, erleben wir eine noch drastischere Wendung. Die Schlange, das bronzezeitliche Attribut der lebensspendenden Göttin, wird zur Widersacherin eines männlichen Gottes. Sie hat die Frau verführt, die wiederum den Mann zu Fall gebracht und mit ihrem Fehltritt die Scham und die Sünde in die Welt gesetzt hat. Die Nacktheit wird grundsätzlich tabuisiert und vor allem der Körper der Frau als initialer Reiz der Versündigung stigmatisiert. Er muß also kontrolliert werden, da er als eine stetige Bedrohung der Reinheit des Mannes gilt.

Im orthodoxen Judentum dürfen Frauen entsprechend nur ihrem Ehemann ihr echtes Haar zeigen, weshalb es üblich ist, Perücken zu tragen. Im Islam müssen Körper und Haare der Frau bedeckt sein, nach radikalen Auslegungen sogar ihre gesamte Haut, während der Mann lediglich seine Unterarme zu bedecken hat. Nicht die Frau verfügt
Die  10. Ausstellung im Jahresprogramm Autonom? des EINSTELLUNGSRAUM e.V. 2022
Präsentation
Vernissage mit Elementen der Performance
back
next
Gefördert von der Behörde für Kultur und Medien der Freien und Hansestadt Hamburg und Bezirk Wandsbek,