Alles im Fluss? Eine Reflektion
flieht sie. Dieser bildet seine Systeme, um Überraschungen zu verhindern. Er plant, er spielt nicht. Er spricht über Strukturen, nicht über Inhalte. Er sucht das stabile Gleichgewicht zwischen seinem gemäßigten Formtrieb und seiner herunter- gedrückten Sinnlichkeit. Er rennt sich fest in der Form. Der Spielende dagegen wagt sich hinauf auf die Schneide des Messers, sucht die Lust des labilen Gleichgewichts, wagt den Absturz. Dort oben, in dem höheren Zustand, muss er das Gleichgewicht halten können, muss um sein Gleichgewicht ringen, nicht in .der Niederung eines gemütlichen Wohnzimmers.

Der Zustand, der von dem Spielenden angestrebt wird, ist also nicht ein mittlerer; sondern ein höherer mittlerer; Schiller nennt ihn den "ästhetischen Zustand". Hier öffnet sich der Mensch der Inspiration oder gar der ,Intuition, - er tritt heraus aus seiner Ordnung, seiner gefügten Weltanschauung, tritt ein in das erwartungsvolle Leben, in die Offenheit, beginnt mit der Schöpfung aus dem Nichts. Das ist der Künstler;.- Prototyp des Menschen, der sich nach diesem Zustand sehnt. Lebende Gestalt, das Objekt des Spieltriebs, ist "ein Begriff, der allen ästhetischen Beschaffenheiten der Erscheinungen und mit einem Worte dem, was man in weitester Bedeutung Schönheit nennt, zur Bezeichnung dient." (Brief 15) Spieltrieb also sucht Schönheit.

Mit dem Postulat des Spieltriebs ist ausgesprochen das Postulat, dass der Mensch dreigliedrig sei. Die lähmende Polarität der beiden Grundtriebe wird aufgehoben, der Dualismus von Stoff und Form, ' von Materie und Geist in Frage gestellt, die Polarisierung von Natur und Sittlichkeit erscheint überwindbar. Der spielende, Mensch ist der trinitarische. Indem er aus der Dualität heraustritt, erschafft er schon mit dem ersten Schritt eine neue Qualität, ein neues Reich, das Reich' der Freiheit nämlich, "weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freiheit wandert." (Brief 2) Unter seinen Schritten bildet sich der Weg. Caminante, no hay caminol Se hace camino alandar! (Machado)

Spiel ist demnach die Voraussetzung des wahren Menschseins. Schiller hat es in die Formel gefasst, die dann berühmt geworden ist: "Denn, um es endlich auf einmal heraus zusagen; der Mensch spielt nur da, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist-nur da ganz Mensch, wo er spielt." (Brief 15)

Dieser herrliche Satz ist nicht pathetisch, sondern wirklichkeitsgemäß. Er hätte ein Grundstein werden sollen für die weitere Gestaltung unseres kulturellen und sozialen Lebens. Schiller sagt es so: "Dieser Satz, der in diesem Augenblicke vielleicht paradox erscheint, wird eine große und tiefe Bedeutung erhalten, wenn wir erst dahin gekommen sein werden, ihn auf den doppelten Ernst der Pflicht und des Schicksals anzuwenden; er wird, ich verspreche es Ihnen, das ganze Gebäude der ästhetischen-Kunst und der noch schwierigem Lebenskunst tragen. ',(Brief 15)

Es geht also nicht um Kunst, es geht ums Leben. Das Wort "Lebenskunst" kann man trivial verstehen: Lebenskünstler ist, der sich die Sache leichtmacht. Wenn man es aber tiefer aufzufassen versucht; dann wird von seiner Bedeutung besonders der misshandelte Begriff "Arbeit" in ein schöneres, helleres Licht getaucht .. So z.B. bei Joseph Beuys, der gesagt hat: "Selbst beim Schälen einer Kartoffel kannst du ein Bildhauer sein!" Von diesem kleinen frechen Aperçu bis zu so großen Themen wie "Mitgestaltung des Arbeitsplatzes im Betrieb" oder "Volksabstimmung" oder "Erziehungskunst" spannt sich ein weiter Bogen; jede Gemeinschaft - eine Familie, ein Staat, ein Unternehmen - kann gestaltet werden als "Soziale Plastik" oder "Soziale Skulptur". Es geht aber nicht, wenn die Leute nicht "spielen" können - oder nicht "spielen" wollen, wenn sie den sozialen Prozess mechanisch oder bürokratisch oder diktatorisch regulieren wollen und nicht wie Künstler, nicht musikalisch.

Was Joseph Beuys "Soziale Skulptur" genannt hat, heißt bei Schiller: Ästhetischer Staat. Das ist eine Gemeinschaftsform, in der der Mensch dem Menschen "nur als Objekt des freien Spiels gegenüberstehen darf". (Brief 27) Was bedeutet denn das? Weder Rechte noch Pflichten, sondern nur freie Entscheidungen dürfen in einem solchen Gemeinwesen das Sozialleben bestimmen. Könnte das dazu führen, dass die Kräfte und Begabungen, die Stärken und Schwächen, die Wünsche und Nöte aller zusammenzuspielen beginnen wie die Organe eines Organismus oder die Instrumente in einem Orchester? Schiller sah die ,Chancen einer Verwirklichung dieses Traums realistisch: "Existiert ;aber auch ein solcher Staat des schönen Scheins, und wo ist er zu finden? Dem Bedürfnis nach existiert er in jeder feingestimmten Seele, der Tat nach möchte man ihn wohl nur, wie die reine Kirche


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