Alles im Fluss? Eine Reflektion
beiden Triebe, und die polaren Begriffe Leben und Gestalt umfassen seine ganze Welt. Diese Darstellung des Menschen in zwei Gliedern ist schwer erträglich. Der Autor presst seinen Leser in diese Anschauungsform durch eine Stringenz der Gedankenführung, die kein Ausweichen erlaubt: " ... doch sind es diese beiden Triebe, die den Begriff der Menschheit erschöpfen, und ein dritter Grundtrieb, der beide vermitteln könnte, ist schlechterdings ein undenkbarer Begriff." (Brief 13)

Zudem kommt Schiller in seiner kritischen Untersuchung der kulturellen Entwicklung der mittel-europäischen Menschheit zu der Diagnose, dass die Aufklärung des Verstandes wohl fortgeschritten, die "Ausbildung des Empfindungsvermögens aber das dringendere - Bedürfnis der Zeit" (Brief 8) sei. Der begriffliche Zusammenhang der Briefe, in dem der einseitige Stofftrieb-Mensch als "Wilder", der einseitige Formtrieb-Mensch als "Barbar" bezeichnet wird, lässt also begreifen, warum der typische Mitteleuropäer weit stärker zur Barbarei neigt als zur Wildheit~ Die Exzesse der Barbarei im 20. Jahrhundert waren für Schiller vorhersehbar. Die unentwickelte "Sinnlichkeit" und die Verachtung der irdisch-stofflichen Welt, d.h. der Natur, die den Europäer seit Descartes kennzeichnen, sind die Merkmale des modernen Barbaren.

So ist eine doppelte Entwicklungsaufgabe sichtbar: Ausbildung einer vollen Sinnlichkeit und Steigerung der Polarität der bei den Grundtriebe zu einem Dritten, zum "Spieltrieb". Steigerung dadurch, dass Stoff- und Formtrieb sich gegenseitig verstärken und nicht der eine den anderen abschwächt oder ausgleicht. Im 14. Brief: "Wir sind nunmehr zu dem Begriff einer solchen Wechselwirkung zwischen beiden Trieben geführt worden, wo die Wirksamkeit des einen die Wirksamkeit des anderen zugleich begründet und begrenzt, und wo jeder einzelne für sich gerade dadurch zu seiner höchsten Verkündigung gelangt, dass der andere tätig ist." Das bedeutet also nicht Gleichgewicht, nicht "goldener Mittelweg"! Aus Schillers Perspektive ist der Mittelweg nicht "golden", nein, er führt in die Mittelmäßigkeit, ins Elend der - unschöpferischen Langeweile.

Bei ihm klingt das so: "Weil es Schwierigkeiten kostet, bei aller Regsamkeit des Gefühls seinen Grundsätzen treu zu bleiben, so ergreift man das bequemere Mittel, durch Abstumpfung der Gefühle den Charakter sicherzustellen; denn freilich ist es

unendlich leichter, vor einem entwaffneten Gegner Ruhe zu haben, als einen mutigen und rüstigen Feind zu beherrschen. In dieser Operation besteht dann auch größtenteils das, was man einen Menschen formieren nennt." (Anm. zu Brief 14)
Da steht es: Abstumpfung der Gefühle! Der heutige europäisch/amerikanische Zivilisationsbetrieb mit den dazugehörigen Erziehungssystemen hat diese Richtung genommen. Emotionen anregen, aufpeitschen und dann ein bisschen steuern: ja. Emotionen sind aber etwas anderes als Gefühle, auch wenn dazwischen keine scharfe Grenze zu ziehen ist. Was vernachlässigt wird: Ausbildung eines starken Fühlens, eines differenzierten Fühlens, eines Fühlens, das sich zum Erkennt- nisorgan entwickeln kann, eines künstlerischen Fühlens, eines echten religiösen. Fühlens. Um der Ordnung willen!
Aber schon Karl Kraus hat einst gesungen: "Und das Chaos sei willkommen / denn die Ordnung hat versagt!"

Spieltrieb und Spiel
Steigerung also, um der Spießbürgerlichkeit zu entrinnen. Ist der. Gegenstand des sinnlichen Triebes Leben und der des Formtriebs Gestalt, so ist der Gegenstand des Spieltriebs lebende Gestalt oder gestaltetes Leben. Dieser Gedankenakt führt zur Geburt des Begriffs "Spiel" auf einer höheren Ebene. "Die Vernunft stellt aus transzendentalen Gründen die Forderung auf: Es soll eine Gemeinschaft zwischen Formtrieb und Stofftrieb, d.h. ein Spieltrieb sein, weil nur die Einheit der Realität mit der Form, der Zufälligkeit mit der Notwendigkeit, des Leidens mit der Freiheit den Begriff der Menschheit vollendet." (Brief 15)

"Spieltrieb" ist also eine Forderung, keine Gegebenheit. Kinder haben ihn als Himmelsgeschenk, Erwachsene haben ihn nicht. Sie sind, der Schulpflicht folgend, in die Schule gegangen, mindestens so lange, bis der kindliche Spieltrieb in ihnen gänzlich ausgelöscht war. Ja - es muss wohl so ein: Der Spieltrieb der Kinder muss sterben, um durch eine Metamorphose in eine neue Kraft verwandelt werden zu können, die dann später als Spieltrieb des reifen gebildeten Menschen aufersteht. Ob sie wirklich aufersteht? Welches sind die Bedingungen für das Gelingen der Metamorphose?

"Spiel" ist anarchisch, der Spielende heischt nach Überraschung; der Bürgerliche


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