Alles im Fluss? Eine Reflektion
und die reine Republik in einigen wenigen auserlesenen Zirkeln finden ... :' (Brief 27)

Nichts Sensationelles, Lautes, Gewalttätiges ist hier gemeint, sondern etwas Feines, eine zarte Verbesserung der menschlichen Natur durch Spielen. Dieses Wort hat ja ein außergewöhnlich großes Bedeutungsumfeld: Anspielen, abspielen, bespielen, verspielen, auf- und zu- und hin- und her- und über- und ein- und ausspielen, und manche dieser Verben weisen noch einmal für sich jeweils in verschiedene Bedeutungsrichtungen, zugleich z. B. verspielen. Und die Fülle der Substantive: Geigenspiel, Ballspiel, Spielball, Beispiel und das Spiel der Wellen und weitere hundert. Sehr nahe kommt man dem Wesen des Spiels durch die Betrachtung der Radachse, die in ihrem Lager läuft: sie braucht "Spiel". Einen Hauch "Spiel", nicht einen hundertstel Millimeter zu viel oder zu wenig. "Gestalt" heißt hier: präzise Passung, "Leben" heißt hier: eine winzige Ungenauigkeit zulassen. Mit "Spiel" beginnt alle Bewegung; die Gelenke haben Spiel; mit dem "Spiel" fängt der Geigenton an zu leben, denn er muss zwar sauber gegriffen sein, aber dann wird er doch ganz fein umspielt, seine Präzision wird ein wenig aufs Spiel gesetzt; das ist das Vibrato, das den Ton verlebendigt und beseelt, das heißt, ihn schön macht.

Jeder kennt das Würfelspiel. Der Würfel wird geliebt und gefürchtet. Machen wir eine kleine Übung. Erinnern wir uns an unsere Kindertage und an das Brett mit den bunten Figuren, über das unser Holz- männlein rasch und ohne in den Brunnen zu fallen, hineilen muss, an hundert Gefahren vorbei, von den Augen des Würfels getrieben und· gezügelt zugleich. Der Augenblick, in dem wir den Würfel in die Hand nehmen, ist der köstlichste: Alle Möglichkeiten sind offen, wir empfinden die Offenheit des Schicksals, es liegt in unserer Hand; wir können es steuern. Wir schütteln den Würfel noch einrnal in der Hand, senden ein Stoßgebet gen Himmel, glühend vor Hoffnung und Erwartung auf das Kommende, voller Bangigkeit vor der falschen Zahl. Endlich lassen wir den Würfel rollen. Eine halbe Sekunde rollt er noch, kippt mit dem letzten Rest des Schwungs doch noch über die Kante; dann erblicken wir die Zahl, die das weitere Schicksal bestimmt. Triumph! Oder Entsetzen! Der Gegner ist überrannt - oder ich schleppe mein Unglücksmännchen geschlagen über das Brett zurück bis zum Ausgangsfeld, und lachend und spottend rennen die Mitspieler weiter. Ich unterwerfe mich dem Schicksalsspruch, zerknirscht über mein Versagen oder das Verhängnis erduldend -  wer weiß es -,
aber ich gehorche, gramerfüllt. Und schon steigt, während die Runde läuft, wieder eine neue Siegesgewissheit in mir auf, eine heiße Erwartung, denn in wenigen Sekunden stehe ich wieder am Anfang der Welt und nicht am Ende, ich bin wieder dran! Und wieder der Augenblick, wo die Welt mir offen zu Füßen liegt, und wieder das süße unerbittliche Gesetz, dem ich mich unterwerfe.

In beidem, scheint es, liegt die Quelle der Lust: in dem feurigen Moment der vollen Macht über das Leben und in dem dunklen Augenblick, wo ich das Schicksal empfange; sicher auch in der Schärfe des Kontrasts, in dem Hin- und Hergeworfenwerden zwischen Seligkeit und Elend. Der Würfel eben lässt nur in zwei Phasen getrennt erleben, was das volle Erlebnis des Spieles sein will, er reißt das Erlebnis ent¬zwei: im Wurf die Befriedigung des sinnlichen Triebes im kurzen sinnlichen Rausch, dann, nach dem Erblicken der geworfenen Zahl die klaglose Erfüllung dessen, was das Gesetz mir befiehlt. Das Würfelspiel ist erst eine Vorform von wahrem Spiel.

Nun folge als nächster kleiner Schritt der Übung, die bei den polaren Erlebnisse des Würfelspiels zusammenzuschieben, in einem und demselben Augenblick beides zu erleben: die frohe bange Erwartung und die glückliche oder niederschmetternde Erfüllung, das Yang des Würfelwurfs und das Yin in der Hingabe an das Gebot der Zahl, Freiheit und Notwendigkeit in eins. Versuche das in der Seele zusam- menzurücken, beides zugleich zu fühlen: Frohlocken und Zerknirschung. Da bildet sich etwas, für das ich keine Worte habe; ist es nicht so, als berührte ich mit der Fingerspitze etwas Unbekanntes, Brennendes? Oder mit der Herzspitze? Oder mit der Spitze des Denkens?

Gipfel der Steigerung, Augenblick der Inspiration, des Berührtwerdens vom Geist, des Eintritts in die schöpferische Freiheit. Ein "Zustand der höchsten Ruhe und der höchsten Bewegung", so nennt Schiller ihn, diesen "ästhetischen Zustand", "und es entsteht jene wunderbare Rührung, für welche der Verstand' keinen Begriff und die Sprache keinen Namen hat." (Brief 15) Inspiration ereignet sich ja nicht dadurch, dass man im Lotussitz verharrt und auf das Erscheinen des Geistes wartet, sondern eben durch "Spiel", wie Schiller es versteht. Nach all dem Voran- gegangenen können wir jetzt ebenso sagen: durch "Arbeit", wie Schiller sie versteht. "Es muss" und "Ich will" verschmelzen miteinander, "Arbeit" und "Spiel"

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