Zu dieser künstlichen, vom Menschen geschaffenen Umwelt gehören beide Aspekte, die hier im Einstellungsraum und in den Arbeiten von Rahel Bruns zusammengeführt werden: die Kunst und das Automobil.
Doch wie entsteht diese vom Menschen geschaffene Sphäre der Kultur?
Wenn etwas erschaffen wird, so möchte man meinen, ist es dem Gestaltungswillen seines Schöpfers untergeordnet, entspricht ganz und gar seinen Zwecken und steht unter seiner Kontrolle.
Betrachtet man aber das individuelle Hineingeworfensein in unsere zivilisatorischen Zusammenhänge, steht der Mensch seiner Schöpfung genauso hilflos gegenüber wie der übermächtigen Natur. Wie der alte Besen aus Goethes Zauberlehrling hat die Kultur begonnen, ein eigenes Leben zu führen und setzt sich über die Wünsche ihres Schöpfers hinweg.

Als die Entdeckung des Blutkreislaufs von William Harvey als Gedankenmodell auf die Städte, also die Brennpunkte der menschlichen Kultur, übertragen wurde, begriff man sie mit einem Mal als einen eigenständigen Organismus, sie wurden anthropomorphisiert. Straßen und die Mittel der Fortbewegung wurden nicht mehr begriffen als Einrichtungen, die dem Individuum dienen, sondern als essentielle Aspekte dieses übergeordneten Organismus. Straßen wurden nicht mehr angelegt, um dem Einzelnen von Nutzen zu sein, sondern dem großen Organismus „Stadt“.

Nach der Handlungstheorie von Anthony Giddens kann zwar nur der individuelle Mensch etwas begehren und dementsprechend handeln, die Konsequenzen der Summe dieser individuellen Handlungen verdichten sich aber zu Strukturen, die mit den primären Handlungsabsichten und -gründen nichts gemein haben müssen.
Durch unsere akkumulierten Bedürfnisse und Begierden haben wir also etwas erschaffen, das sich in einer Form manifestiert hat, die weit über unsere ursprünglichen Absichten hinausgeht oder sich ihnen sogar entgegenstellt.
Wir haben ein System hervorgebracht, das durch seine Komplexität als nicht-linear anzusprechen ist, und entsprechend eine fraktale Dynamik und dadurch eine unvorhersagbare Entwicklung angenommen hat 5. Der Mensch selbst ist darin degradiert zu einem ephemeren, verletzlichen und austauschbaren Element, wie es z.B. beschrieben wird von Joseph Conrad in dem Roman „Nostromo“ oder in dem epochalen Werk „Manhattan Transfer“ von John Dos Passos.
Ein hervorstechender Aspekt dieses Systems, der uns wie kein anderer die unglaubliche Gewalttätigkeit unserer verselbständigten Schöpfung vor Augen führt, ist die Automobilität, das Versorgungssystem, der Blutkreislauf, die Logistik unserer Zivilisation. Sie ist omnipräsent, sie zerschneidet die Landschaft, sie gestaltet unseren unmittelbaren Wohn- und Lebensraum, sie tötet jedes Jahr abertausende von Menschen, die ihr in die Quere kommen, sie vergiftet uns und unseren natürlichen Lebensraum. Schon längst ist es nicht mehr der freien Entscheidung des Einzelnen überlassen, ob er sich ihrer reissenden Strömung anvertraut oder nicht: die Gestalt der modernen Städte, die nach dem Primat der Mobilität angelegt worden sind, läßt dem Individuum kaum eine andere Wahl.

Ebenso ist die äußere Gestalt der Automobile schon lange nicht mehr Gegenstand rein ästhetischer Entscheidungen. Hier gilt das Primat der Ökonomie in Form der Aerodynamik, weshalb es heutzutage immer schwerer fällt die verschiedenen Automodelle auseinander zu halten. Der Mensch ist dazu verdammt, ein Leben an der Oberfläche dieses nach eigenen Gesetzen sich entwickelnden Organismus zu führen, den er zwar selbst erschaffen, über den er aber schon lange die Kontrolle verloren hat.

An diesem Punkt möchte ich den Blick auf die Arbeiten von Rahel Bruns lenken. Sie setzt sich schon seit längerer Zeit mit verschiedenen Aspekten der Automobilität und verschiedenen Erscheinungen in ihrem Randbereich auseinander.

In der Ausstellung „Wagentourette“ werden vor allem Fotografien gezeigt, auf denen wir die durch Abgase und Straßenstaub verdreckten Oberflächen von Last- und Lieferwagen sehen, also Oberflächen von Elementen der Selbstversorgungsmaschinerie unseres post-industriellen, kapitalistischen Systems, denen eine offenkundige Verwahrlosung anzusehen ist. Doch es geht nicht um die Automobile selbst, sondern um die Einschreibung in die Schmutzschichten, um die Spuren menschlichen Handelns.


Die meisten dieser Zeichnungen sind nicht intentionell. Es sind zufällige Ergebnisse von Handgriffen, Spuren von Arbeitsvorgängen, häufig auch akkumulierte Spuren von Handlungsroutinen, die durch stete Wiederholung saubere Flächen in den Schmutzschichten haben entstehen lassen.
Hier entdecken wir bereits eine Analogie zu dem „duré“, der Handlungstheorien von

5 Gerd Eilenberger: Komplexität - Ein neues Paradigma der Naturwissenschaften, in: Mannheimer Forum 89/90, München 1990, S. 71 ff.
Vernissage
back
next
Gefördert von der Kulturbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg, Bezirk Wandsbek und VG-Bildkunst