Bourdieu und Giddens, dem andauernden, fortgesetzten Agieren,  das, nach Giddens, der Motivation des Individuums entstammt, in seiner Akkumulation aber etwas anderes, unbeabsichtigtes hervorbringt: die Struktur unserer Kultur. So bringen auch die Spuren des Handelns Formen und Einschreibungen hervor, die jenseits jeder Gestaltungsabsicht existieren.
Besonders deutlich zeigt sich diese Diskrepanz an dem Bild der Seitenwand eines Schweinetransporters: Kaum jemand, den nicht ein leises Grauen überkommt, wenn er einen solchen Tiertransport sieht, dessen gerasterte Verschläge an die unmenschliche und mechanisierte Welt der Fleischindustrie gemahnt, die in dieser Form sicher niemand gewollt hat.

Doch an den Verschlüssen der rechtwinkligen Klappen an der Außenseite sieht man die Spuren von Händen. Denn es sind immer Individuen, die eine solche Maschinerie, so grausam und unmenschlich sie auch erscheinen mag, in Gang halten und bedienen, selbst wenn das Ziel des Einzelnen überhaupt nicht darin besteht, sondern nur darin, das tägliche Brot zu verdienen. Trotzdem: nur das akkumulierte Handeln einer menschlichen Gemeinschaft hat diese Maschinerie schließlich entstehen lassen.


Neben den unbeabsichtigten Einschreibungen sehen wir aber auch Spuren, die deutlich zeigen, daß Menschen sich des Zeichenmediums der verdreckten Wagen spontan bewußt geworden sind und gezielt kleine Botschaften oder Notizen hinterlassen haben. Sie verweisen auf die kurzen, wachen Moment der Gegenwärtigkeit, auf eine Bewußtwerdung in den sonst andauernden, blinden Handlungsroutinen.

Doch nicht nur die post-industrielle Kultur hat in der Ausstellung ihren Platz, auch die ihr gegenübergestellte Natur wird thematisiert. Sie begegnet uns auf den Fotos in Form von Bäumen, die Rahel Bruns im Vorbeifahren aus dem Autofenster abgelichtet hat, oder als Baumschatten auf den LKW-Hecks in der Diashow, die im Keller zu sehen ist.

Doch so wenig wie der Mensch seine eigene Schöpfung beherrschen kann, so wenig kann er im automobilen Strom mit der Natur in Kontakt treten. Sie ist nur noch ein ephemerer Schatten, ein flüchtiges, vorbei huschendes Bild, eine Erinnerung, und dennoch ist ihre innere Logik allgegenwärtig: in der fraktalen Verästelung der Bäume,
in der Art und Weise, wie sich die Schöpfung des Menschen verselbständigt hat und sich in ihrer Komplexität jeder Kontrolle entzieht, und in der zufälligen, akkumulierenden Flusigkeit der Spuren menschlichen Handelns.

Schließlich bleibt die Frage nach dem Menschen selbst. Mit einer fast schon rührenden Ausnahme, einem Foto, auf dem man eine Hand sieht, die eine kleine Fläche einer Heckklappe reinigt, tritt der Mensch überhaupt nicht in Erscheinung. Er wird vertreten durch seine Spuren, durch die Perspektive, also den Blick aus dem Auto heraus, und schließlich durch die Bleistiftzeichnungen.

Diese Zeichnungen des Werkkomplexes „Wagentourette“ sind tatsächlich während des Autofahrens und ohne einen Blick auf das Papier entstanden. In ihnen erleben wir den Versuch, die Ereignisse in der äußeren Welt mit denen der inneren Welt abzugleichen, bzw. eine Brücke von der einen in die andere Sphäre zu schlagen, und wir werden Zeugen des Scheiterns an dem Versuch, der Reizüberflutung in der automobilen Wirklichkeit Herr zu werden. Wir erleben das Zusammenfallen von Gesehenem und Gedachtem, den Kontrollverlust.

Gleichzeitig aber tritt in den Zeichnungen das organische Element der Natur zutage, eine  Unordnung, die Selbstorganisation flüchtiger Einzelereignisse, die sich zu etwas zusammenballen, in dem wir schließlich ein Zeichen, eine komplexe Einschreibung, die Spur eines Handlungszusammenhangs erkennen können, in der es wiederum möglich ist, eine Narration auf menschlichen Maßstab zu projizieren.

Und hier sehen wir schließlich die Stärke des hinfälligen Menschen, der kaum mehr als ein Phantom zwischen den Welten zu sein scheint: entfremdet von der Natur, und von dem selbstgeschaffenen System degradiert zur störungsanfälligen Arbeitsameise.
Seine Stärke tritt uns in der Fähigkeit entgegen, die ungesteuerte, natürliche und allgegenwärtige Selbstorganisation zu erkennen und schließlich mit ihr zu spielen. Denn selbst wenn die strengen graphischen Elemente der technisch-kulturellen Sphäre Linearität und Kontrolle suggerieren sollen: die Verwahrlosung, der Dreck, die nicht-intentionellen Einschreibungen und am signifikantesten das Spiel mit den Einschreibungen entlarvt diese Kontrolle schließlich als Illusion.

ⓒ Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, Mai 2016

Vernissage
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