Diese Fortsetzung dieses Zitats fand ich übrigens im Katalog über Louis Soutter, dessen Zeichnungen und kleinformatige Gemälde 1985 in München, Bonn und Stuttgart ausgestellt worden waren. Auf diesen Künstler kam ich angesichts der Bilder von Gefäßen und Figuren, die Sticker hier im EINSTELLUNGSRAUM versammelt hat. Sie sind nicht mimetisch und entfalten sich aus den Verläufen von Farbstreifen.

Barbara Catoir sieht in Soutter neben Klee und Giacometti den dritten wichtigen Schweizer Künstler seiner Generation.8 Diese in den 1980er Jahren im Kunstbetrieb hervorgehobenen Positionen gehen schon wieder ins Vergessen über, obwohl damals kunsthistorisch und kuratorisch zahlreiche Künstler in diesen Kontext eingebunden wurden. Da diese mit dem bildnerischen Denken von Edith Sticker verwandt sind, möchte ich hier auch die Ausstellung „Elementarzeichen“ NBK, Berlin 1985 zumindest erwähnen, in der Werke von Künstlern wie A.R. Penk, Eva Maria Schön, Rune Mields, die Graffiti von Harald Naegeli, Richard Hambleton und Keith Haring vertreten waren. Ich nenne diese Namen, zu denen auch die von Maria Lassing und Arnulf Rainer hinzuzuziehen sind, besonders im Hinblick auf die kleinformatigen Malereien von Sticker, die vergleichbaren Auffassungen von Körpern und Gegenständen entspringen. Ihre Konturen streben keine mimetische Wiedergabe an, sondern ergeben sich aus Material und Gesten. Die Ausstellung und die Beiträgen im dazu herausgegebenen Katalog befassen sich mit den Zeichen, Symbolen, Zahlen und den in zahlreichen Kunstwerken aktualisierten vormythischen Äußerungen des psychophysisch eingeschriebenen kulturellen Bestandes. Lucie Schauer bezeichnet sie im Vorwort als eine „aus den Tiefen des Geschichtsbewußtseins wie auch aus der individuellen Psyche empor- gelotete Sprache“.9 Den kunsttheoretischen Überlegungen folgend, wäre Stickers Installation mit den Leitern, Lampen und Stromkabeln ein 3-dimensionales Sinnbild oder Modell dieser künstlerischen Produktionsweise, die den Instruktionen des Zeneisho folgt.
ZENEISHO
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Zen-ei-sho bezeichnet Avantgarde-Schreibkunst in Japan, wobei die Vorsilbe Zen nichts mit dem gleichlautenden Zweig des Buddhismus zu tun hat, und diese Schreibkunst auch nicht mit Kalligraphie verwechselt werden sollte:
„Beim Zeneisho braucht der Künstler sich nicht an die konventionellen Zeichen zu halten, um seinen Geist, seine ästhetische Absicht zum Ausdruck zu bringen. Gleichwohl ist auch für einen Anhänger des Zeneisho die Schulung in der traditionellen Art und Weise Grundvoraus- setzung für sein Werk.“ 10
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III. Vertikalität der Zwischenwelten - Bilder im Raum entstehen lassen

In der Aktualisierung prähistorischer Zeichen und Symbole als ein Bezugssystem lassen sich künstlerischen Verfahren zusammenfassen, die nach wie vor fruchtbar sind und bedeutende Bildschöpfungen hervorbringen können, die Menschen verschiedener Kulturen auf der Basis eines vormythologischen Erfahrungsschatzes verbinden. Sie besteht in der psychophysischen Verinnerlichung von elementaren bildnerischen Vorgängen, deren Erneuerung schon vom surrealistischen Automatismus angestrebt worden war. Sie streben einen von der fotografischen Nachbildung der Realität unabhängigen Prozess der Bildfindung an.

Die Ausstellung von Edith Sticker heißt „ausloten“ und kündigt insofern eine Mehrdimensionalität an, die diesem Prozess der Bildfindung entspricht, der sich nicht auf die Fläche der zweidimensionalen Abbildung konzentriert, sondern auf den Raum und die Aktion. Der in Handlungen einbezogene Raum kann sich dann, wie die Tuschemalereien in Bezug auf die Installation zu erkennen geben, durchaus auf einem Blatt niederschlagen; doch liegen Ursache und Zusammenhang nicht in einer eventuellen Vorzei- chnung oder einem schon existierenden Bild, sondern in der geistigen und physischen Aktion, mittels der ein Bild zum Erscheinen gebracht wird.

8 Die Kunst beginnt, wo das Leben flieht. Das Werk Louis Soutters und seine verwandten Phänomene in der  zeitgenössischen Kunst, in: ebd., S. 25-40, 25. Soutter, ein virtuoser Geiger und Orchestermusiker, führte nach seiner Auswanderung in die USA  und der Rückkehr in die Schweiz ein unstetes Leben, das er mit etwas Geld als Straßenmusiker oder durch Auftritte in Lokalen bestritt, bis ihn seine Familie, die seinen Lebenswandel nichtertragen konnte, in einem Altenheim internieren ließ, wo er intensiv zeichnete und malte.
9  Zeichen – von Jahrtausenden, in: ebd., S. 7-8, 7
10  Definition und Ausführungen folgen den Unterlagen von Nangaku Kawamata, die während der Internationalen Akademie für Kunst und Gestaltung in Hamburg 1997 ausgegeben worden sind.

Die 08. Ausstellung im Jahresprojekt  Autos fahren keine Treppen  des EINSTELLUNGSRAUM e.V.
Vernissage
Gefördert von der Kulturbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg 
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