Gehörlosenalphabet Grau bezieht sich mit einer weiteren Serie von Arbeiten – eine davon ist auf der Einladungskarte abgebildet – auf das Gehörlosenalphabet. Hier gibt es bestimmte Haltungen der Hand, die Buchstaben bedeuten. Doch müssen diese nur in bestimmten Fällen eingesetzt werden. Weil es viel zu lange dauern würde, jedes Wort zu buchstabieren, setzten Gehörlose wie übrigens auch ihre hörenden Gesprächspartner – jeder kann diese Sprache lernen! – beide Hände gleichzeitig, das Gesicht und den Oberkörper simultan ein. Durch Kombinationen von Gesten und Mimik wird die Dichte der Information und somit auch die Übertragungsgeschwindigkeit erhöht. Für häufig vorkommende Wendungen und Zusammenhänge sind außerdem Kurzformen verfügbar, die wie in der akustischen Kommunikation auch den Redefluss beschleunigen. Hier wie dort ist Sprechen immer auch eine Frage der Routine und des Umgangs z.B. zwischen Freunden oder im Berufsleben, wo außerdem Slangs üblich sind. Dementsprechend bilden Gehörlose im Freundes- und Bekanntenkreis wie auch andere gesellschaftliche Gruppen Spezialsprachen aus III. Verbindliche und unverbindliche Gesten Themen ändern sich, es gibt Moden und Stile. Neue Wissensbereiche kommen hinzu. Auf dieser abstrakten Ebene sind die Arbeiten von Juro Grau für mich lesbar und außerordentlich interessant. Sie gibt nicht nur Figuren und Gesten der Hand wieder, sondern kombiniert sie mit Köpfen und Gesichtern. Bemerkenswerterweise bildet die hier ausgestellte Serie meist weiße Männer mit unterschiedlichen Haarfarben und –trachten ab. Ohne Frauen, Afrikaner oder Asiaten wirken die Darstellungen extrem politisch unkorrekt. Die Ursache darin lässt sich über die Frisuren auflösen. Die Abbildungen stammen – der ‚Elvis-Tolle’ nach zu urteilen – aus den 1960er Jahren. Sie wurden über die Vorlagen aus Comicheften dieser Zeit in die Serie eingeschleust. Durch die Vergrößerung wirken die auf einem billigen Papier manchmal zu fett oder zu mager gedruckten Vorlagen übertrieben reduziert und graphisch grob, womit sie sich als eine Quelle der Bildsprache der Künstlerin zu erkennen geben. Im neuen Kontext erheischen diese monochrom und schematisch gemalten Gesichter und Hände das Plakative von Schablonendrucken, wie es etwa selbst hergestellten Unterrichtsmaterialien eigen ist. Dadurch wird zunächst einmal die Glaubwürdigkeit der Blätter erhöht, so dass man annimmt, dass es sich hier tatsächlich um ein Hilfsmittel zur Verbreitung des Gehörlosenalphabets handelt. Doch weit gefehlt: Bis auf einige wenige Zeichen läuft die vermutete pädagogische Ausrichtung ins Leere. Die Schautafeln sind nichts |
anderes als ein Vorwand, zeichenhaft
erstarrte Kurzformen von Köpfen und Händen zu kombinieren,
wobei deutlich wird, wie willkürlich fixierende Eingriffe
in ein dynamisches Zeichensystem ist. Ähnlich wie in
der Pop Art geht es um eine Verselbständigung der Bilder,
die der Kommunikation entzogen werden. Das behaupte ich
nicht nur, um den Titel der Ausstellung zu bestätigen,
sondern auch im Hinblick auf mögliche Vorläufer dieser
Kombinatorik. Gruppenzugehšrigkeit durch Gesten Ich denke ganz konkret an das Gemälde „Au rendez-vous des amis“, auf dem Max Ernst 1922 seine dadaistischen und surrealistischen Künstlerkollegen collagenartig zusammengestellt hat. Man sieht ein Gruppenbild von Menschen, die sich so komplett nie getroffen haben, zumal auch historische Gestalten wie der Russische Dichter Dostojewskij und der Renaissancemaler Rafael unter sie gemischt sind. Diese transhistorische Vollständigkeit erinnert an die auf christlichen Bildtafeln übliche Versammlung von Aposteln, Propheten und Patriarchen, die historisch durch Jahrtausende getrennt sind. Das Hölzerne der Figuren bei Ernst behält selbst die hierarchische Strenge bei, doch nimmt sich Gala, als einzige Frau, verflossene Gattin von Eluard, Geliebte von Ernst und spätere Le- bensgefährtin von Dali, mit christlicher Ikonografie verglichen, wie eine blasphemische „Jungfrau Maria“ zwischen diesen Männern aus. Neben der Anordnung der Figuren fällt auf, das sie mit ihren Händen Gesten und Zeichen bilden, um die es auch bei Juro Grau geht. Dass diese eine Bedeutung haben könnten, liegt nahe, weil Max Ernsts Vater Taubstummenlehrer war. Um so frustrierender ist die Erkenntnis, dass dieser Deutungsansatz, selbst wenn sich einige Buchstaben aufklären ließen, irreführend ist. Bedeutsamer ist vielmehr, dass die Zeichen, welche die Abgebildeten mit ihren Händen formen, eine geheimbündische Zugehörigkeit suggerieren. Diese Botschaft ist entscheidend; denn was wäre ein Geheimbund, wenn die Zeichen für Dritte lesbar wären. Max Ernst, der viele praktische Vorlagen u.a. aus dem Kölner Lehrmittelkatalog verwendet hat, legte ja gerade Wert darauf, die aus einem nützlichen Zusammenhang stammenden Gesten, Handlungen, Zeichen und Bilder aus dem Kontext herauszureißen, um sie im Namen der Einbildungskraft frei assoziierend neu zusammenzustellen. Dadurch entstehen, der surrealistischen Intention zufolge, zufällige neue Kombinationen, die Fährten hin zu einer Horizonterweiterung legen. |
Vernissage |
|
back | next |
Gefšrdert von der Behšrde fŸr Kultur, Sport und Medien der Freien und Hansestadt Hamburg |