Es ist auffällig, dass nicht benannt wird, vor welchem Bild, in welchem Saal die Begegnung stattfand, noch nicht einmal das Geschlecht der jeweiligen Person ist klar.
Unterschrieben ist die Suchanzeige nämlich mit Geenie, also ein Genie wie Rembrandt, mit einem hysterischen zweiten "e" aus lauter, höchstwahrscheinlich hormoneller, Verwirrung: Ein Schrei als Unterschrift - nicht sonderlich nützlich zur Wiederauffindung von Personen. Es ist eine privatistische Innenperspektive, eine Projektion - irrational, unteilbar, und solipsistisch. Eine symptomatische Unaufmerksamkeit könnte man sagen, eine typische Manifestation von SCHEIN, als freigestellte Einzelerscheinung. Und dann als Krönung auch noch mit der Idee von Kommunikation Ð-so schlimm verfahren noch nicht einmal Künstler.


Aber Selbsttäuschung funktioniert sehr gut, solange man dabei nicht gestört wird, und man reagiert mit Recht ver- ärgert, wenn die Sache auffliegt.

"Was wird von Dichtern höher gepriesen, als der bezaubernd schöne Schlag der Nachtigall in einsamen Gebüschen, an einem stillen Sommerabende, bei dem sanften Lichte des Mondes? Indessen hat man Beispiele, daß, wo kein solcher Sänger angetroffen wird, irgendein lustiger Wirt seine zum Genuß der Landluft bei ihm eingekehrten Gäste dadurch zu ihrer größten Zufriedenheit hintergangen hatte, daß er einen mutwilligen Burschen, welcher diesen Schlag (mit Schilf oder Rohr im Munde) ganz der Natur ähnlich nachzumachen wußte, in einem Gebüsche verbarg. Sobald man aber inne wird, daß es Betrug sei, so wird niemand es lange aushalten, diesem vorher für so reizend gehaltenen Gesange zuzuhören; und so ist es mit jedem anderen Singvogel beschaffen. "Es muß Natur sein, oder von uns dafür gehalten werden, damit wir an dem Schönen als einem solchen ein unmittelbares Interesse nehmen können" sagt Kant über das Naturschöne, und das heißt, sobald der Betrug auffliegt, als Schein, der nicht als solcher etikettiert war, wie man es bei Kunst gewohnt ist, ist sofort Schluss mit dem ästhetischen Glück.

"Die Dialektik der Modernen Kunst ist in weitem Maße die, dass sie den Scheincharakter abschütteln will wie Tiere ein angewachsenes Geweih" (S. 157) soviel zum Naturschönen bei Adorno.
Es ist ein lustiger Gedanke, sich einen Platzhirsch vorzustellen, der im Wald sein Geweih schüttelt und einen Platzhirsch, ein Malschwein im Atelier, der endlich das Bild ohne sein Ego malen will, dieses aber andererseits dringend dazu braucht, um morgens überhaupt aufzustehen. Man ist mit Paradoxien geschlagen und zwar mit großem Erfolg.

"Kein Kunstwerk hat ungeschmälerte Einheit, ein jedes muß sie vorgaukeln und kollidiert dadurch mit sich selbst. Konfrontiert mit der antagonistischen Realität, wird die ästhetische Einheit, die jener sich entgegensetzt, zum
Schein auch immanent. Die Durchbildung der Kunstwerke terminiert im Schein, ihr Leben wäre eins mit dem Leben ihrer Momente, aber die Momente tragen das Heterogene in sie hinein, und der Schein wird zum falschen.(...) Schein ist das Kunstwerk nicht allein als Antithesis zum Dasein, sondern auch dem gegenüber, was es von sich selbst will. Es ist mit Unstimmigkeit geschlagen. (...)"
Gleichwohl gibt es diese viel diskutierten und begeistert gefeierten Sinnzusammenhänge. Dieser für Kunst wesentliche Sinnzusammenhang ist aber der SCHEIN. Er integriert Kunst in einen Zusammenhang. "Indem er sie aber integriert, wurde Sinn selber, das Einheit stiftende, durchs Kunstwerk als präsent behauptet, ohne dass er es doch wirklich wäre. Sinn, der den Schein bewerkstelligt, hat als oberstes am Scheincharakter teil. Trotzdem ist der Schein des Sinns nicht dessen vollständige Bestimmung. Denn der Sinn des Kunstwerks ist zugleich das im Faktischen sich versteckende Wesen; (der Sinn) zitiert zur Erscheinung, was diese (diese Erscheinung) sonst versperrt*." (S.161)

Wir haben eine Erscheinung
Rainer Maria Rilke, Oktober 1914, München
Gesammelte Werke, Band IV, Leipzig 1927.


"Wir haben eine Erscheinung. Sie steht in den Zimmern, und auf den leeren Plätzen steht sie um Mitternacht, und wenn es Morgen wird, so wird sie deutlicher mit dem Tag, und wir sehen die Häuser durch ihre durchscheinende Gestalt. Ein Revenant ist davon abhängig, wie viele ihn wahrnehmen. Diesen gewahren alle: er ist aus allen Gräbern gestiegen. Alle gewahren ihn. Aber wer erkennt ihn?
Nein. Ihr sollt nicht bekannt tun mit ihm. Ihr sollt ihm nicht das Zubehör und die Zunamen früherer Kriege anhängen, denn ob es gleich ein Krieg ist, so kennt ihr ihn doch nicht. Da man euch Bilder von Greco zeigt, so gabt ihr zu, dass da ein Erleben sei, das ihr nicht kanntet. Und wenn dieser Krieg ein Gesicht hat, so sollt ihr es ansehn wie das Gesicht Amenophis des Vierten, das vorher nicht da war. Ihr sollt davor stehen, wie neulich vor der Tatsache, dass in ein paar Pferden, bisher unangerufen, eine Gegenwart des bestimmtesten Geistes wohnt; ihr sollt als die, die ihr jetzt seid, den leidenschaftlichen Umgang des Todes hinnehmen und seine Vertraulichkeit erwidern; denn was wisst ihr von seiner Liebe zu euch?
Wir haben eine Erscheinung, - und es hat sie mancher angerufen; sie aber weicht nicht und schreitet durch unsere Wände und steht nicht Rede. Weil ihr tut, als kenntet ihr sie.
Erhebt eure Augen und kennt sie nicht; schafft ein Hohles um sie mit der Frage eurer Blicke; hungert sie aus mit Nichtkennen! Und plötzlich, in der Angst nicht zu sein, wird euch das Ungeheure seinen Namen schrein und wegsinken".

*(alle kursiv gesetzten Passagen stammen aus ästhetische Theorie von Adorno/
Hrsg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M. 1970; 13. Aufl., 1995.)


Nora Sdun

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