| Höhle
zu den Gegenständen und schließlich zu den Ideen selbst
geschafft hat, – auch hier also handelt es sich um einen
Perspektivwechsel hinein in die Vertikale, einen
Aufstieg der Seele zur Erkenntnis der Ideen in ihrem
Ideenhimmel, also von unten nach oben, immer weiter nach
oben, das ist die Richtung der Erkenntnis, von unten
nach oben, nicht, dass jeder Perspektivwechsel
automatisch einen Erkenntnisgewinn mit sich bringen
würde, umgekehrt scheint mehr dran zu sein – , dass also
der Philosoph nach dem Aufstieg auch wieder den
Abstieg antreten muss, aus der geistigen Höhe zurück in
die Niederungen menschlicher Angelegenheiten.5
Das Höhlengleichnis als frühes Zeugnis der
Notwendigkeit, zwei Perspektiven miteinander zu
vereinbaren, die der Armlänge, die nur das versteht, was
sie buchstäblich begreift, und die der (geistigen) Höhe,
in der sich niemand auf Dauer aufhalten kann, ohne
Gefahr zu laufen, verrückt zu werden oder
abzustürzen. Wie also das richtige Maß finden? Dies ist eine Frage der Methode, die die Künstlerin in ihrer Arbeit im unteren Geschoss stellt. Hier wird die Frage nach der REGEL dringend, die lautet: Wie soll das Verhältnis beschaffen sein zwischen der vertikalen Perspektive der Höhe und der horizontalen des ausgestreckten Arms? Denn dass es nicht möglich ist, oder zumindest nicht wünschenswert, auf eine der beiden Perspektiven zu verzichten, sollte deutlich geworden sein, denn dies würde auch zu einer unerwünschten Komplikation führen, nämlich zu einer Beschneidung der menschlichen Möglichkeiten, um es einmal ganz allgemein zu sagen oder besser noch mit Ingeborg Bachmann: „Im Widerspiel des Unmöglichen mit dem Möglichen erweitern wir unsere Möglichkeiten.“6 Bitte beachten Sie, dass wir hier einen Richtungswechsel vollziehen, im unteren Geschoss, denn es geht nicht mehr um das Einnehmen einer Perspektive in luftiger Höhe, um einen Aufstieg in die Vertikale, vielmehr tasten wir uns voran, mit ausgestreckten Armen, wie Blinde, am Boden, in Richtung des Horizonts, denn was uns berührt, müssen wir auch selbst berühren können: Die Armlänge als Maß menschlicher Angelegenheiten? Künstlich verlängert um die Länge einer Prothese, mit der wir unsere Reichweite vergrößern, wenn wir uns vorantasten wie Blinde in der Dunkelheit. Wie also sich orientieren, im Dunkeln wie im Denken? Was heißt dabei eigentlich, sich orientieren? Schon Kant schreibt dazu: „Sich orientieren heißt in der eigentlichen Bedeutung des Worts: aus einer gegebenen Weltgegend (in deren vier wir den Horizont einteilen) die übrigen, … finden. Sehe ich nun die Sonne am Himmel und weiß, daß es nun die Mittagszeit ist, so weiß ich Süden, Westen, Norden und Osten zu finden. Zu |
diesem Behuf bedarf ich aber durchaus das Gefühl eines Unterschiedes an meinem eigenen Subjekt, nämlich der rechten und linken Hand. Ich nenne es ein Gefühl: weil diese zwei Seiten äußerlich in der Anschauung keinen merklichen Unterschied zeigen. … Also orientiere ich mich geographisch bei allen objektiven Datis am Himmel doch nur durch einen subjektiven Unterscheidungsgrund; …“7Worauf Kant hinauswill, ist: Um sich überhaupt denkend in der Welt zurechtzufinden, bedarf es nicht nur objektiver, allgemeingültiger Denkprinzipien wie dem Prinzip vom ausge-schlossenen Dritten, nach dem etwas nicht gleichzeitig wahr und falsch sein kann, sondern auch subjektiver Prinzipien; Prinzipien also, die nicht unabhängig von uns gültig sein können, sondern im Gegenteil nur gelten, weil wir – zufällig – so sind, wie wir sind; so funktioniert unsere räumliche Orientierung nur im Verhältnis zu uns: Wir sagen, rechts von mir, links von mir, vor oder hinter mir, entsprechend der vier Himmelsrichtungen. Die Himmelsrichtungen als unser Koordinatensystem, auf das wir im Dunkeln vertrauen müssen, wenn wir uns überhaupt bewegen wollen. In diesem Koordinatensystem also errichten wir schließlich unsere Gedankengebäude, als Ergebnis unserer Tätigkeit des Denkens, oder zumindest Modelle von solchen Gebäuden, deren Material ungleich dünner ist als jedes Papier, und mindestens genauso vergänglich. Denn wir hören ja nicht auf zu denken, im Gegenteil, wir türmen ganze Gebäude auf, der Turmbau zu Babel, nicht ganz, aber hier stimmt die Richtung wieder, denn es geht nach oben. Was hält diese Gebäude zusammen? So etwas wie Fertigteile, die garantieren, dass auch andere darin wohnen könnten? Das muss die Konformität sein, die uns zusammenhält. Oder doch so etwas wie der Gemeinsinn, auf den sowohl Kant als auch Arendt bauten? So bauen wir an unseren Gedankengebäuden, aber vielleicht ist es auch nicht wichtig, was wir bauen, sondern eher, dass wir an ihnen bauen, immer weiter, in die Höhe, wenn auch vorläufig, wie an uns selbst, provisorisch, auf Widerruf. Mehr können wir vielleicht nicht tun, um der Vertikalen gerecht zu werden, auf Dauer, während wir weitergehen, in eine der vier Himmelsrichtungen. Die Installation von Waltraut Kiessner jedenfalls scheint zu empfehlen, als REGEL: Baue Dein Gedankengebäude nicht zu fest, es könnte sein, dass Du es morgen schon wieder abreißen musst. Da hätten wir sie am Ende gar noch gefunden, unsere Gewissheit, ohne sie gesucht zu haben. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. |
| 5 Platon, Politeia,
Buch VII, 514a-518b. (Höhlengleichnis). 6 Ingeborg Bachmann, Die Wahrheit ist den Menschen zumutbar. Essays, Reden, kleinere Schriften, 2011, München/ Zürich, S.76. |
.7 Kant, ‚Was heißt: sich im Denken
orientieren?‘ In: Berlinische Monatsschrift, Oktober
1786, S.304-330. |
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08. Ausstellung zum Jahresprogramm Regeln regeln.
Regeln regeln! 2019 des EINSTELLUNGSRAUM
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