9) Der Glaube, den ich meine, ist nicht leicht in Worte zu bringen. Man könnte  ihn etwa so ausdrücken: Ich glaube, dass trotz des offensichtlichen Unsinns das Leben dennoch einen Sinn hat, ich ergebe mich darein, diesen letzten Sinn mit dem Verstand nicht erfassen zu können, bin aber bereit, ihm zu dienen, auch wenn ich mich dabei opfern muss. Die Stimme dieses Sinnes höre ich in mir selbst, in den Augenblicken, wo ich wirklich und ganz lebendig und wach bin. Was in diesen Augenblicken das Leben von mir verlangt, will ich versuchen zu verwirklichen, auch wenn es gegen die üblichen Moden und Gesetze geht. Diesen Glauben kann man nicht befehlen und sich nicht zu ihm zwingen. Man kann ihn nur erleben.

10) Unrein und verzerrend ist der Blick des Wollens. Erst wo wir nichts begehren, erst wo unser Schauen reine Betrachtung wird, tut sich die Seele der Dinge auf, die Schönheit. … Denn Betrachtung ist ja nicht Forschung oder Kritik, sie ist nichts als Liebe. Sie ist der höchste und wünschens-werteste Zustand unserer Seele: begierdelose Liebe. … So sehe ich im Menschen vor allem jene Form und Äußerungsmöglichkeit des Lebens, die wir „Seele“ nennen und die uns Menschen nicht nur eine beliebige Lebensstrahlung unter tausend anderen zu sein scheint, sondern eine besondere, eine auserwählte, hochentwickelte, ein Endziel. Denn einerlei, ob wir materialistisch oder idealistisch oder sonstwie denken, ob wir die „Seele“ als Göttliches oder als verbrennende Materie uns denken, - wir kennen sie doch alle und werten sie hoch; für jeden von uns ist beseelter Menschnblick, ist Kunst, ist Seelengestaltung die oberste, jüngste, wertvollste Stufe und Welle alles organischen Lebens.

11) Der Weg führt aus der Unschuld in die Schuld. Aus der Schuld in ide Verzweiflung, aus der Verzweiflung entweder zum Untergang oder zur Erlösung: nämlich nicht wieder hinter Moral und Kultur zurück ins Kinder-paradies, sondern über sie hinaus in das Lebenkönnen kraft seines Glaubens. … Soweit kann ich die Stadien einer Menschwerdung, einer
Entwicklungsgeschichte der Seele erkennen. Ich kenne sie aus der eigenen Erfahrung und kenne sie aus den Zeugnissen vieler anderer Seelen. Immer, zu allen Zeiten der Geschichte und in allen Religionen und Lebensformen, sind es dieselben typischen Erlebnisse, immer in derselben Stufung und Reihenfolge. (…) Hundertmal hat die Menschheit sich diesen Entwick-lungsgang in großartigen Sinnbildern vorgezeichnet: das uns geläufigste dieser Bilder ist der Weg vom paradiesischen Adam bis zum erlösten Christen. (…) Von jenen Hauptstufen der Seelngeschichte aber weiß ich, und von ihnen weiß und wusste jeder, der sie erlebt hat; sie sind Wirklichkeiten. (…) Ob jemals wirklich ein Mensch Gott geworden sei, darüber weiß ich nichts. (...) In Heiligenlegenden aller Religionen finden sich Andeutungen solcher Erlebnisse, welche überzeugend klingen. (…) Übrigens sind es keineswegs nur jene mystischen letzten Stufen und Erlebnismöglkichkeiten der Seele, die sich dem Verständnis und der eindeutigen Mitteilbarkeit entziehen. Auch die früheren, auch die allerersten Schritte auf dem Weg der Seele sind verständlich und mitteilbar einzig für den, der sie an sich erlebt hat. (…) Dagegen erkennt jeder die typischen Seelenerlebnisse, die er selbst gehabt hat, unfehlbar und augenblicklich wieder, wo er sie in den Berichten anderer antrifft – auch da, wo er aus fremden und unvertrauten Theologien übersetzen muss. (…) Und jeder Christ, der noch ein Stück näher ans Zentrum des Glaubens gekommen und darum dem Bereich der bloß „christlichen“ Erlebnisse entwachsen ist, findet bei den Gläubigen anderer Religionen, nur in anderer Bildersprache, alle jene Grunderlebnisse der Seele mit allen Kennzeichen unfehlbar wieder.

Vielleicht konnte diese Darstellung zu Hesses Leben und Werk als Wegweiser dienen, bzw. die Richtung andeuten, in welcher die Antwort auf die im Programm gestellte Frage zu finden ist: Wie kann der Kontakt zur Seele aufgenommen werden, die hinter unser vielen Masken lebt?

                                         
9) Hermann Hesse: Mein Glaube, Suhrkamp Verlag 1987, Vorblatt
10) ebd. S.11 , 11) ebd.65ff, 

Vertiefung des Jahresprogramm SEELENKLIMA des EINSTELLUNGSRAUM e.V. 2021   ; Fotodoku
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