Vertikalität im
Labyrinth der Senkel von Johannes Lothar Schröder
„Jetzt ein Paar Schuhe“ heißt
ein Objekt des chinesischen Künstlers Ai Wei Wei. Als er
gefragt wurde, warum er diesem Paar schwarzen
Herrenschuhen das hintere Drittel abgeschnitten und sie
am Schnitt zusammengenäht habe, erzählte er dem
Journalisten, er hätte als Kind ohne Schuhe herumlaufen
müssen, während er mit seinen internierten Eltern
Latrinen reinigte. Es ist noch nicht so lange her, als
ich nach dieser Sen- dung zu begreifen begann, welche
Bedeutung Schuhe in der Kunst haben, deren Besitz nicht
immer und überall selbstverständlich ist. Sicher wäre
diese Einsicht schon längst anhand des Essays von
Jacques Derrida und den Ausführungen von Martin
Heidegger über die Schuhe van Goghs zu haben gewesen,
doch führte mich die philosophische Argumentation nicht
zur Kunstgeschichte der Schuhe.
Die aktuelle Auseinandersetzung mit dem Werk von Sakir Gökçebağ brachte mich schließlich dazu, wenigstens ein Standadwerk* durchzublättern und mich zu vergewissern, wie es um Schuhe - zumindest in der Malerei des 20. Jahrhunderts - bestellt ist; und ich muss sagen, es sind erstaunlich wenige Schuhe, die den Dargestellten von den Malern zur Verfügung gestellt werden. In der ersten Jahrhunderthälfte verknappen häufig Armut, Kriege und Verelendung die Verfügbarkeit von Schuhen. Aber auch aktualisierte klassische Sujets, also Akte, z.B. nackte mytho- logische Figuren, sehen das Tragen von Schuhen nicht vor. Öfter als es einem bewusst ist, werden die Füße auch bei den gut Gekleideten unter den Porträtierten gar nicht abgebildet. Selbst Ganzfiguren erreichen den unteren Bildrand spätestens in Höhe der Schienenbeine. |
Und der Tod, etwa
bei Rouault, geht auf bleichen Fersenknochen. Chagalls
oft schwebende - da aus der Erinnerung auftauchende -
Figuren haben spitz zulaufende Extremitäten, die keine
wirklichen Schuhspitzen erkennen lassen. Auch trägt die
Vorliebe der Maler für bestimmte schicksalsverwandte
Berufsgruppen dazu bei, dass wir improvisierte
Fußbekleidung oder im Falle von Artisten und
Balletttänzerinnen berufstypische Schuhe zu sehen
bekommen. Häufig sind Füße auch von Tischen und anderen
Möbeln verdeckt. Die ganze Ambivalenz dieses Themas ist
vielleicht in Paul Klees „Narr in Trance“ geronnen,
dessen rechter Fuß einfach spitz zuläuft, während seine
linker Fuß mit erkennbaren Zehen nackt ist.
Geputzte blanke Schuhe sind rar: Soldaten, wie "Der Sergeant" von Marquet, 1904, tragen Stiefel. Sie finden sich auch in der repräsentativen Auftragskunst und in der sozial engagierten Malerei, wo man sowohl gestiefelte Helden wie auch Schergen zur Tat schreiten sieht. Markant, da gut poliert, sind die Schuhe des von George Grosz porträtierten Max Hermann-Neisse, der außerdem Gamaschen trägt. Und Kirchner lässt "Die Maler der Brücke“ selbstbewusst im festen Schuhwerk beieinander stehen. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzt sich die Abstraktion erneut durch und leitet damit eine weitere Phase der Schuhlosigkeit ein. Dieses hatte sich schon bei der Moderne am Anfang des Jahrhunderts angedeutet und war auch von figürlichen Darstellungen wie bei de Chirico vorbereitet worden, der seine Figuren als aus Holz gebaute Puppen malte, welche zum Schneidern von Oberbekleidung dienen. Füße fehlten und bauartbedingt gab es - mangels Muskeln - weder Gestik noch Mimik, mithin keinen Ausdruck von Emotionen. Einer hybriden Variante von Lebewesen und Kleidungsstück, welche die Schuhpaare von van Gogh aufgreift, begegnen wir auf dem in mehreren Versionen 1935 realisierten Bild „Das rote Modell“ (Le modèle rouge) von René Magritte, der ein paar nackte Füße über dem Spann und unter der Ferse in geschnürte Lederschuhe übergehen lässt. |
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