imstande ist, das erlebende Selbst mit Unvorhersehbarem zu konfrontieren, andererseits den individuellen und kollektiven Impulsen einer eigendyna-mischen sozialen Umgebung, die ebenfalls Ereignisse und Umstände zeitigt, denen das Individuum mitunter unvorbereitet begegnen muß.

Sollen der Handlungsrahmen und damit auch die Grenzen des Selbst erweitert werden, kann das Individuum entweder passiv auf zufällige Impulse aus der Außenwelt warten, zu denen es sich anschließend in Bezug setzen muss, oder es kann selbst aktiv nach neuartigen Impulsen suchen, wobei es zwar zunächst die Methodik der Suche gestalten kann, nicht aber die Gegebenheiten, auf die es dabei stößt und auf die es reagieren muss.

Diese Situation hat sich mit der Entstehung eines weltumspannenden, digitalen Informationsnetzwerks drastisch geändert. War es in den ersten Dekaden des Internets noch normal, sich eigenständig mittels Suchmaschinen und den ersten sog. sozialen Netzwerken auf die Suche nach neuen Inhalten zu machen, wurden bald von verschiedenen Softwareentwicklern Algorithmen programmiert, um immer detailliertere Profile der im Netz agierenden Individuen zu erstellen. Die Aufgabe dieser Profile ist es, speziell auf das Individuum zugeschnittene Inhalte anzubieten, die dem bisherigen Rezeptionsverhalten entsprechen, um eine Anbindung des Einzelnen an den Anbieter und schließlich eine Kontrolle und maximale Ausnutzung dessen Konsumverhaltens zu erreichen.

Mit dem Entstehen dieser digitalen, von Algorithmen gesteuerten und individualisierten Prothese der Wirklichkeit, hat sich also an der Begegnung von Ich und Welt etwas Entscheidendes geändert. Einerseits ist das Momentum des Unerwarteten und Zufälligen nicht mehr gegeben. Die Inhalte, mit denen uns die Algorithmen versorgen, liefern uns, sofern sie wie intendiert funktionieren, nur noch Informationen im Rahmen des Bekannten oder Naheliegenden. Wir müssen uns nicht mit einem Einbruch des Fremden und Überraschenden auseinandersetzen, das sich nicht mit unseren gewohnten Routinen verarbeiten lässt.
Andererseits wird durch die Vorauswahl, die die Algorithmen für uns treffen, der Prozess der eigenständigen Suche überflüssig. Doch gerade dieser Prozess hat ganz eigene Qualitäten, die uns viel über uns selbst und die Wirklichkeit lehren können. So äußerte J.W. von Goethe in einem Gespräch mit Carolin Herder: "Man reist ja nicht, um anzukommen, sondern um zu reisen."(6)
Denn eine Eigenart des Vorgangs der Suche ist ja gerade der, dass man dabei notgedrungen Stationen durchläuft, die mit dem Gesuchten nur mittelbar in Zusammenhang stehen und, selbst wenn das Gesuchte bekannt sein mag, uns dennoch Unerwartetes bieten, an dem wir wachsen können, da es die Grenzen des Bekannten und Antizipierten transzendiert.

Treffen wir hingegen ohne den Prozess der aktiven Suche nur auf Dinge und Gegebenheiten, die entsprechend unserer Begehrlichkeiten gefiltert worden sind, maskiert sich die Welt mit unseren Projektionen. Anstatt Dingen zu begegnen, die unser Selbstbild in Frage stellen, wird es ausschließlich bestätigt. Unsere vermeintliche Begegnung mit der Welt, mit einem Nicht-Ich im digitalen Raum, entpuppt sich als eine Selbstbespiegelung in einem narzißtischen Loop, der uns nicht mehr an unsere Grenzen und darüber hinaus führt und uns dadurch zeigen kann, wer wir eigentlich sind, sondern uns statt dessen vorgaukelt, die Welt käme unseren Begehrlichkeiten und Sehnsüchten entgegen, sei auf uns regelrecht zugeschnitten. Aber indem wir den Algorithmen überlassen, die Wirklichkeit zu maskieren, rauben wir uns die Möglichkeit, uns selbst zu begegnen. Indem wir den Spiegel maskieren, maskieren wir auch uns selbst. Ohne das Korrektiv eines tatsächlichen Nicht-Ichs werden unsere falschen Selbstbilder nicht in Frage gestellt, sondern verfestigen sich durch die digitale Selbstbespiegelung immer mehr.

Die Maskerade vollzieht sich nicht nur auf der hinlänglich bekannten Ebene 

(6) Goethe, J. W.: Gespräche,  dtv Verlagsgesellschaft, November, 1998

Präsentation
Vernissage
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