denn sie versuchen solche Dimensionen zu erfassen und sind dabei, Instrumente zu entwickeln, die individuelles Leben übergreifende Zeiten und Zeiträume begreifbar machen.

III. Die Kathedralen der Gegenwart und die Apparate

1.    Fahrende und fliegende Kathedralen
Die Architekten der "Kathedralen des 20. Jahrhunderts"5  benutzten zunächst noch architektonische Vorgaben und dekorative Elemente aus der Vergangenheit, bis die industriellen Baustoffe selbst formgebend werden konnten. Nach verglasten Eisenbauwerken des 19. Jahrhunderts wie dem Kristallpalast in London bezogen sich namentlich expressionistische Architekten auf kristalline Strukturen, wie sie Murano hier krude und abstrakt in Form von Styropor-Gips-Elemente gebildet mit den vier Türmen kombiniert hat. Ende der 1920er Jahre wuchsen erste Sky-Scraper mit Oberflächen aus Stahl, Glas und Beton in den Himmel der Metropolen6. Auch wenn die Globalisierung im 21. Jahrhundert neue und noch höhere Wolkenkratzer hervorgebracht hat, werden heute die ehrgeizigsten Projekte auf den Gebieten der Grundlagenforschung (Elektronenzyklotrone) und Energieversorgung (Kernfusionsreaktoren) auf den Weg gebracht. Dabei sind einzelne Gebäude nicht als weithin sichtbare Wahrzeichen konzipiert sondern wegen der mit der Grundlagenforschung verbundenen technischen Raffinesse bewundernswert. Oft entziehen sie sich sogar den Blicken, weil sie wie Gräber unterirdisch oder von Außen unsichtbar bleiben. In diesem Zusammenhang füllt sich die Tatsache mit Sinn, dass diese Installation kopfüber von der Decke hängt. Auch sind Gebäudekomplexe nicht mehr isoliert zu betrachten, sondern sie müssen mit der Infrastruktur, also mit Kraftwerken, Häfen, Flughäfen, Satelliten und Weltraumstationen verbunden sein. Hier kommt die schematische Zeichnung, die Murano von einer Raffinerie anfertigte, zum Tragen. Um den Güter- und Personentransport einer weltumspannenden Wirtschaft zu bewältigen, werden Schiffe, Flugzeuge und Weltraumflugzeugen entwickelt, die als temporäre Aufenthaltsorte sowohl Merkmale wie auch Ausmaße von Gebäuden haben, während Gebäude bauliche Elemente und Materialien aus dem Fahrzeugbau enthalten,7 und Architekten bedienen sich bei der Formsprache der Science Fiktion.

2.   Trieb und Antrieb
Die schematische Zeichnung eines Strahltriebwerkes, die Murano an der Seitenwand des Einstellungsraums 10- bis 14-fach vergrößert nachgezeichnet hat, zeigt einen Schnitt durch eine Turbine, wie sie sowohl für die Stromerzeugung als auch als Antrieb für den Luftverkehr konstruiert worden ist. Parallel ist ein zweites noch umfänglicheres Aggregat wiedergeggeben. Hierauf wurde die Legende technischer Bezeichnungen und Funktionen durch Vokabular aus der menschlichen Entwicklungsgeschichte und aus dem Künstlerleben ersetzt. Das Schaubild verfolgt den Weg der Wahrnehmungen und Informationen, die in den Verdichter gesogen werden, bis zum Auslass, hinter dem es schließlich zur künstlerischen "Tätigkeit" kommt. Auf dem Weg dahin durchlaufen die mit "Neugier" hereingeschaufelten Eindrücke eine Reihe von Kompressionsstufen, die in Relation zu den psychischen Mechanismen stehen, die das Wahrgenommene überprüfen und zensieren. Sie werden mit Tugenden und Anfechtungen wie "Zweifel", "Analyse", "Überlegung" und "Widerspruch" ergänzt.
Die im Vergleich zum wesentlich schlankeren Strahltriebwerk engste Stelle ist beim künstlerischen Triebwerk das Geld, das die Menge der eingeströmten Luft/ Wahrnehmungen vor der eigentlichen Kraftentfaltung in der Brennkammer durch einen engen Durchlass von der Dicke der Welle extrem reduziert und zugleich verdichtet, was zur Folge hat, dass die Produktionskapazität des Künstlers am Ende weniger als die Hälfte der Leistung eines Flugzeugmotors (90%)  - also 43% - erreicht. Der Brennstoff in der groß dimensionierten Brennkammer wird als "Suche nach der Lösung für leidenschaftliche Ungeduld" bezeichnet. Die wirkliche Turbine ist relativ eng und verdichtet die ausströmenden heißen Gase als "Realitätsflucht", ehe schließlich das Ergebnis bestätigt werden kann, wobei noch eine letzte Instanz, nämlich die "Moral", passiert werden muss. Erst dann kann Kunst hergestellt werden. Das Triebwerk erweist sich also nicht direkt als ein Modell der künstlerischen Produktion, sondern des psychophysischen Wahrnehmungsapparats, welcher der Kunstproduktion vorgeschaltet ist, um ihre materiellen und ideellen Bedingungen zu vergegenwärtigen.

Die Turbine ist also zum Modell für den Energiehaushalt eines Künstlers geworden, der umfassend mit der Bewältigung der Sinneseindrücke beschäftigt ist, ehe überhaupt an die Produktion eines Kunstwerkes gedacht werden kann. Die Fülle der Wahrnehmungen und der Input aus den Medien sind der Kunstproduktion vorgeschaltet und beeinträchtigen mithin ihre Quantität und Qualität. Letztlich trägt auch Geldmangel dazu bei, dass trotz des hohen Inputs nur ein kleiner Teil der eingelassenen Eindrücke für die künstlerische Produktion verwertbar sind. Wir haben es in der Ausstellung also mit einer Vorstufe zu tun, deren Durchlaufen den Künstler erst in die Lage versetzt, später ein Kunstwerk herzustellen.

Die Analogie zwischen Kunst- und Kraftentfaltung verbindet den technischen und den biologischen, mithin psycho-physischen Stoffwechsel. Auf diese Weise bezieht sich das Modell begrifflich und systematisch auf die psychoanalytische Trieblehre, die den Energiehaushalt eines Lebewesens mit dem Antrieb in Zusammenhang bringt, der schon von Sigmund Freud im Bezug auf Maschinen "Apparat" genannt worden war. Damals wurden vornehmlich Fluggeräte sowie Foto- und Filmkameras als "Apparat" bezeichnet und trugen somit dieselbe Bezeichnung wie etwa das Nervensystem oder die Wahrnehmungsorgane in der Biologie.

Diese Benennung macht klar, dass auch Freuds Formulierung des Todes- und Lebenstriebs sowie der sinnlichen Tätigkeit in Relation zu Antriebs- und Bildtechniken steht. Entscheidend ist vielleicht, dass es nicht möglich war, die menschlichen Triebe wie bei einem technischen Apparat genau zu lokalisieren. Beim Menschen ließen sich keine Triebe im Herzen verorten, auch wenn es sinnvoll sein konnte, es als Äquivalent eines Motors zu sehen. Umgekehrt versuchten sich die Ingenieure auf die Verkleinerung von Motoren zu konzentrieren, weil diese in der Pionierzeit der Entwicklung etwa von "Flugapparaten" erwünscht wurden, denn ein Flugzeugantrieb musste leicht sein8. Mit zunehmender Verkleinerung setzten sich Kolbenmotoren als Antriebsmaschinen von Fahrzeugen aller Art durch, bis sich die Luftfahrzeuge nach der Einführung der Strahltriebwerke in den 1940er Jahren von der Entwicklung von Kolbenmotoren abkoppelten und überschallschnelle Geschwindigkeiten ermöglichen. Aber immer noch blieb der Motor als Antriebsquelle von allen anderen Aggregaten eines "Apparats" deutlich unterscheidbar, während es sich beim Menschen als schwierig erwies, seelische und physische Antriebsquellen zu lokalisieren.
Die 04. Ausstellung im Jahresprojekt HYBRID des EINSTELLUNGSRAUM e.V.
5 So werden und wurden je nach augenblicklichem Faszinationsgrad Fußballstadien, Bahnhöfe, Fabriken, Museen, Bankpaläste oder Hotelhallen bezeichnet. Kennzeichnend sind die Anstrengung verschiedener gesellschaftlicher Mächte, die Faszination auf ihre Seite zu ziehen, die das "Zentralsymbol der Kollektivierung im Zeichen der Transzendenz" im Mittelalter ausübte. Thorsten Hahn: Fluchtlinien des Politischen. Das Ende des Staates bei Alfred Döblin. Köln 2003, S. 159
6   Beispiele: Helmle, Corbett & Harrisone, Sugarman & Berger: Master Building, 1928-29, D. Everett, Waid & Harvey, Wiley, Corbett, Projekt eines Wolkenkratzers in New York 1929.
7 Stoßdämpfersysteme für erdbebenbeständige Hochhäuser ähneln Stoßdämpfern und Rahmen von Zügen, die hohe Geschwindigkeiten auf kurvenreichen Strecken fahren können.
8 In einem populärwiss. Buch heißt es z.B.: "Sollte es aber gelingen, einen Motor von möglichst geringem Gewicht bei genügender Stärke und Ausdauer zu konstruieren und als Triebkraft für einen zweckentsprechend gebauten Flugapparat nutzbar zu machen, so würde wohl auch das Problem des Kunstfluges gelöst werden können." Johann Torka: Die Wunder der Technik. Eine illustrierte Geschichte der Erfindungen. Berlin o.J. (um 1900), S. 746


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Gefördert von der Behörde für Kultur, Sport und Medien der Freien und Hansestadt Hamburg 
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