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In den
Bildern der Serie KOLLEKTIVE DEVIATIONEN finden wir
alle Elemente dieses auslösenden Moments wieder: Die
Rahmen mit ihren abgerundeten Ecken greifen das Design
des Smartphones auf. Wir sehen die blauen Linien der
vom System verordneten Routen und die
GPS-Ortungspunkte. Die grau gerasterte Matrix findet
ihre Entsprechung in dem billigen kleinkarierten
Recycling-Rechenpapier.
Dieses Papier transportiert bereits zwei Bezüge zu den vorangegangenen Gedanken. Zunächst steht es natürlich für das grundlegendste und in sich geschlossenste System der Weltbeschreibung, der Mathematik, an deren Fundamenten Kurt Gödel mit seinem Unvollständigkeitssatz gerüttelt hat. Gleichzeitig aber löst dieses Papier in den meisten Rezipienten sicherlich einen gewissen Fluchtreflex aus, eine Aufforderung zur Deviation, die unter den für gewöhnlich restriktiven Bedingungen des Mathematikunterrichts meist in Form von Kritzeleien kanalisiert worden ist, Deviationen in Tinte und Graphit. Der GPS-Ortungspunkt, gelöst von der Routenplanung, gewinnt ebenfalls an Qualität. Wir sehen ihn nicht mehr nur als funktionale Standortbestimmung, sondern als eine unabhängige Entität, die zwar nach wie vor von dem überwachenden Auge des Satelliten gesehen wird, aber durch Farbe und Gestalt nun den Eindruck erweckt, sie schaue zurück, wie ein orientalisches Nazar-Amulett, das den bösen Blick abwenden soll. Das Individuum wird zwar noch gesehen, aber es hat sich aus den auslesbaren und damit für die Mustererkennung verwertbaren Zusammenhängen gelöst. Seine Wahlmöglichkeit kann demzufolge nicht mehr terminiert werden von den Parametern des Systems, sondern nur durch eine unmittelbare Auseinandersetzung mit der Welt, die wir jenseits der grauen Matrix imaginieren. Für das Individuum besteht also die Option sich aus der Freiheitsbegrenzung durch ökonomische Verwertungsstrukturen zu lösen, in dem es sich von dem gesellschaftlich propagierten Modell der Wirklichkeit löst und so den Raum für tatsächlich individuelle Entscheidungen öffnet. In Anik Lazars Arbeit wird diese Möglichkeit mit der Metapher der Deviation im Straßenverkehr, der Abweichung vom errechneten Kurs ausgedrückt, mit der das Individuum sich seine Autonomie zurück erobert. Nun stellt sich natürlich die Frage nach dem Kollektiv, und mit dieser Frage betreten wir die Sphäre der Utopie als Zielort. |
Auf vielen der
Bilder ist die Situation inszeniert, die sich
ergäbe, wenn verschiedene, vom Kurs abweichende
Individuen miteinander derart vernetzt wären,
daß sie nicht nur den eigenen Standort, sondern
auch den der anderen sehen könnten - und zwar
nicht innerhalb des vorgegebenen Bezugssystems
der Karte, sondern in dem grauen
Möglichkeitsraum. Die so entstehenden Anzeigen ergäben Konstellationen von Ortungspunkten, die an Sternbilder erinnern, die traditionell zur Navigation benutzt wurden. Doch diese Sternbilder entstammen keinem überlieferten Bezugssystem, sondern werden aus der unmittelbaren Interaktion gebildet und müssen erst noch mit Bedeutung gefüllt werden. Die Interaktion der Individuen wird zu einem Spiel, in dem sich die Spieler gemeinsam auf die Suche nach den Regeln machen, nach denen sie es spielen möchten. Hier liegt der entscheidende Unterschied zu den normierten und normierenden Überein-künften unserer Gesellschaft: Während in ihr das Individuum lediglich ein vorgefertigtes Sortiment von möglichen Entscheidungen innerhalb eines fixierten Rahmens angeboten bekommt, von dessen Gestaltung das eigene Lebens vollständig entkoppelt ist, werden im Vollzug der kollektiven Deviation die Übereinkünfte und damit die Entscheidungs-möglichkeiten aus dem akuten, sich selbst organisierenden Handeln heraus entwickelt. In einem solchen Prozess und Rahmen lösen sich auch die Widersprüche zwischen der Selbstverwirklichung und Freiheit des Individuums und dem Wohl der Anderen auf. In seinem Buch „Der Sinn des Lebens“ vergleicht der englische Literaturtheoretiker Terry Eagleton diese Art des Handelns mit einer improvisierenden Jazzband: Die Musiker sind in ihrem musikalischen Ausdruck vollkommen frei, stellen sich aber gleichzeitig in den Dienst eines musikalischen Ganzen, das mehr ist, als die Summe seiner Teile. Stützt ein Musiker mit seinem Beitrag den freien musikalischen Ausdruck der anderen, schafft er für sich dadurch gleichzeitig das Fundament, das ihm rückwirkend ermöglicht, sein eigenes Spiel weiter zu entwickeln. Dadurch inspiriert er wiederum die anderen und gibt ihnen Anhaltspunkte zur ihrer musikalischen Selbstverwirklichung. Die KOLLEKTIVEN DEVIATIONEN erschließen uns also einen utopischen Denkraum, in dem sich freie, individuelle Akteure, unabhängig von den Parametern post-industrieller Verwer-tungsmuster, in einen offenen und freiwilligen Zusammenhang der Selbstorganisation bege- ben, in einen Zusammenhang, der sowohl die aristotelische Entfaltung des Individuums, als auch die Geborgenheit und den Schutz des sinnstiftenden Kollektivs bietet. ⓒ Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, April 2018 |
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