Drop Out - Flucht aus den Algorithmen - Eröffnungsrede zur Ausstellung Anik Lazar: KOLLEKTIVE DEVIATIONEN
von Dr. Thomas Piesbergen

Die Ausstellung KOLLEKTIVE DEVIATIONEN von Anik Lazar wird gezeigt in der Galerie EINSTELLUNGSRAUM e.V. im Rahmen des Jahresprogramm [Keine] Wendemöglichkeit


Fragt man nach der Bedingtheit des Menschen, eröffnet sich von selbst das Spannungsfeld zwischen dem Individuum und seiner gesellschaftlichen Einbindung. Einerseits sehen wir den Menschen als Horden- oder Herdentier, eng eingewoben in sein Kollektiv, von dem er psychisch sowie physisch abhängig ist. Uns ist auch die Vorstellung der Realität als soziale Konstruktion vertraut, als Produkt der normativen Ordnungsmacht des Kollektivs.
Andererseits sehen wir seit Aristoteles das Glück des Menschen in der freien Entfaltung seiner individuellen Fähigkeiten, den Menschen also als Individuum, an dessen Möglichkeit zur Selbstverwirklichung sich eine Gesellschaft zu messen hat.
In der philosophische Debatte um das Glück, die in den letzten Jahrzehnten verstärkt geführt wird, werden immer wieder die Konzepte vom Glück als erfolgreicher Befriedigung individueller Bedürfnisse denen gegenübergestellt, die das selbstlose altruistische Handeln in den Mittelpunkt stellen. Diese beiden Perspektiven scheinen einander auszuschließen.

Im ethnologischen und soziologischen Material können wir ein breites Spektrum verschie- dener sozio-politischer Organisationsprinzipien finden, die zwischen diesen beiden Polen changieren.
Auf der einen Seite stehen Extreme wie radikal libertäre Gruppierungen in Nordamerika, die jeglichen sozialen Überbau kategorisch ablehnen, und die Autonomie des Einzelnen über alles stellen. Am anderen Ende der Skala stehen verschiedene indigene Völker in Asien, Amerika oder Afrika, in denen alles individuelle Streben aufgeht im Dienst am Kollektiv, manchmal soweit gehend, daß der individuelle Vorteil auf Kosten des Kollektivs gleichbedeutend ist mit dem sozialen Tod, dem der physische meist notgedrungen folgt.

Wie sehr die jeweiligen Prinzipien auf individuelles Handeln wirken, zeigt eine vergleichende Studie der Ankave und Baruya in Neu-Guinea. Die Ankave kennen kaum soziale Kontrollen. Jedem Stammesmitglied wird ein hohes Maß an Freiheit und Eigensinn zugebilligt.
Bei den Baruya hingegen wird das Individuum durch zahlreiche Institutionen und Riten ununterbrochen an die Gemeinschaft gebunden. Beide Extreme erzeugen eine spezifische Form von Gewalt. Während bei den Ankave die Verbrechensrate ungewöhnlich hoch ist, sich also die Gewalt aufgrund mangelnder Kontrolle nach außen richtet, so gibt es bei den Baruya nahezu keinerlei Verbrechen, dafür aber eine ungewöhnlich hohe Suizidrate. Bei den Ankave wiederum geht diese gegen null.

Diese Gegenüberstellung macht deutlich: Der Mensch ist, um ein geschütztes, sinnvolles und erfülltes Leben zu führen, auf beide Aspekte angewiesen: auf seine individuelle Freiheit genauso wie auf ein Kollektiv, das ihn schützt und seinem Handeln einen Sinn gibt, der über den reinen Eigennutz hinaus geht.

Glaubt man der medialen Oberfläche unserer Gegenwartskultur, so könnte man die Überzeugung gewinnen, der Mensch in den heutigen post-industriellen Kontexten gestalte sein Leben selbstbestimmt nach den Idealen der Freiheit, der Unabhängigkeit und der Individualität.
Vor allem in der Werbung, die ein bedeutender Spiegel zeitgeistigen Selbstverständnisses und Abbild von Sehnsüchten darstellt, begegnen uns als Individualisten ausgewiesene Figuren, die gegen den Strom schwimmen, ihre Freiheit und ihren Eigensinn feiern, stolz auf ihre Ecken und Kanten sind; die sich rauchend vor der Tür begegnen, um dort das wahre Leben zu genießen, während die anderen drinnen wie die Schafe dem Mainstream folgen; die mit dem Schlachtruf „Liberté Toujours!“ ganz bewußt im Hier und Jetzt Grenzen überschreiten und Momente der Freiheit auskosten; die sich, perfekt ausgestattet, in der Bergwelt elementaren Herausforderungen stellen, um sich selbst zu begegnen; oder die ihre Individualität und Unabhängigkeit mit einem neuen Vierradantrieb vor einer unberührten Naturkulisse ausleben. Wo man auch hinschaut, es gilt das Gebot: Spüre deine Einzigartigkeit!

Gleichzeitig wird auch der Gemeinschaft von Individualisten gehuldigt, die sich mit der Gitarre am Strand, mit dem Bier am Hafen, mit dem Grill auf dem Hochhausdach, oder auf dem Sperrmüllsofa am Straßenrand zusammenfinden, um ihrem freigeistigen Lebensgefühl einen angemessenen Erfahrungsraum zu bieten.

Doch unternimmt man einen Realitätsabgleich, wird rasch eine massive Diskrepanz deutlich. Schon die äußerlichen Kennzeichen des in der Regel männlichen modernen „Individualisten“
Präsentation
Vernissage
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