Künste, sondern das Erlebnis des Lebendigseins durch emotionale Reize, die in all ihren Erscheinungsformen, den negativen wie positiven, integraler Bestandteil unseres Lebens sind.

Diese Perspektive wird auch von dem Kulturanthropologen Joseph Campbell gestützt, der durch seine Mythenforschung entscheidende Erkenntnisse über die Anfänge darstellender und erzählender Kunst gewonnen hat. Laut Campbell entstanden die ersten Mythen und Geschichten aus dem Bedürfnis heraus, problematische Lebensabschnitte und Krisen geistig so zu bearbeiten und zu vermitteln, daß es leichter fällt, sie zu überstehen. Vor allem geht es um Krisen, in denen sich in unserem Körper Dinge ereignen, die uns erschrecken: Pubertät, Liebe, Krankheit, Tod.
Diese Aspekte sollen als lebendiger Bestandteil des Lebens erfahrbar gemacht werden. Durch Geschichten und Bilder, in denen diese Krisen „nachgeahmt“ werden, soll der Mensch lernen, Dinge benennen zu können, mit ihnen umzugehen, und vor allem die Erfahrung des Lebendigseins zu machen, in dem er auch die negativen Ereignisse und Erschütterungen als sinngebend annimmt.

Im Umkehrschluss kann man daraus folgern, dass nicht nur der Künstler versucht, die verknöcherte Seele seines Rezipienten zu erschüttern, wie Capek es ausdrückt, sondern daß auch der Rezipient, geleitet von seinem Bedürfnis, sich lebendig zu fühlen, aktiv nach solchen Erschütterungen sucht.
Das scheinen die Statisktiken aus den Bereichen Film, Fernsehen und Literatur zu belegen. Während im Kino und den Streamingdiensten Thriller und Horrorfilme die ehemals dominierenden Genres Western, Action und Krimi ablösen, die sich ebenfalls schon mit den Feldern der Gewalt und der seelischen Abgründe beschäftigt haben, sind es auf dem Buchmarkt schon seit Jahren unverändert Krimis und Thriller, die zusammen fast zwei Drittel aller gelesenen Bücher ausmachen. Auch im Fernsehen dominiert der Krimi unangefochten.

Aber genauso wie uns erschreckende und aufwühlende Fiktionen anziehen und durch das kathartische Mitleiden ein Gefühl von Lebendigkeit vermitteln können, so tun es auch die Inhalte der medialen Welt. Denn auch die wirklichen Ereignisse dringen immer nur
reduziert zu uns und werden durch die Reduktion, bewusst oder unbewusst, in narrative
Strukturen überführt, mal als bloße Narrative, mal als vollständige Narrationen.

So ist es ein offenes Geheimnis, dass alle Medien von Katastrophen profitieren. Der 11. September 2001 ist eines der krassesten Beispiele dafür, wie die ganze Welt für Tage in eine Public Viewing Arena verwandelt wurde. Auch die mediale Präsenz der Despoten der Weltgeschichte und der Tagespolitik illustriert dieses Phänomen sehr anschaulich. Denn selbst wenn man ihren Charakter und ihre Politik zutiefst ablehnen mag, haben sie als Medienfiguren, gefiltert durch mediale Reduktion, zweifellos einen hohen, wenn auch fragwürdigen Unterhaltungswert. Allein die zahllosen Dokumentationen über Hitler seien als Beleg angeführt.

Das Bedürfnis nach emotional erregenden Reizen hat auch die Entwicklung des Internets in eine Richtung getrieben, die vor 20 Jahren in kaum einer Prognose bedacht worden ist. Statt des Szenarios eines fruchtbaren Austauschs von wissenschaftlichen Fakten und Nachrichten ist ein Zustand eingetreten, in dem die weltweite digitale Vernetzung vor allem primitive Empfindungen und emotionale Bedürfnisse bedient. Wir versuchen über die „Social Media“ in Kontakt mit der Welt zu treten, ihr unser Wunsch-Selbst zu zeigen und es mittels „Like“-Streicheleinheiten von ihr bestätigen zu lassen.

Die Meinungsbildung, auf der anderen Seite, findet auf eben diesen Plattformen meist nicht durch objektive Information statt, sondern durch affektive Gruppenbildungen, befeuert von polarisierenden Narrativen, emotional aufgeladene Bilder, Shitstroms und entsprechende Gegenreaktionen. Die emotional aufgeladenen „Aufreger“ bestimmen online die Stimmung und die politischen Kommentare.


Gleichzeitig erleben wir in unseren postindustriellen Kontexten immer weniger öffentliche Gewalt und sind immer weniger akuten Gefahren ausgesetzt. Unser Leben ist zu einem meist ereignislosen Dahintreiben im Strom der technischen und sozio-ökonomischen Entwicklung geworden. Eugen Roth faßte die emotionale Erfahrung einer eintönigen Lebenswirklichkeit in seiner Lyriksammlung „Mensch und Unmensch“ sehr schön in einem kleinen Vers zusammen:
Der 03.Beitrag zum Jahresprogramm SPRIT  und SPIRIT des EINSTELLUNGSRAUM e.V. 2020
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