Das
Narrativ vom gelobten Land - Dr. Thomas Piesbergen über
die Ausstellung "Sehen-Sucht" von Esther Heltschl Die Ausstellung "Sehen-Sucht" zum Jahresthema "Autonom?" findet bis zum 15.7.2022 im Einstellungsraum e.V. , Hamburg statt. Ein zentraler Aspekt der Menschwerdung
und gestaltgebende Kraft aller ideellen menschlichen
Kultur ist eine Fähigkeit, die uns so selbstverständlich
und alltäglich erscheint, dass wir ihre Bedeutung und
tiefgreifende Wirkung auf unser Leben kaum wahrnehmen. Es
ist unsere Fähigkeit Geschichten zu erzählen.
Die Voraussetzungen des Erzählens sind die Fähigkeit, die zum Sprechen notwendigen Laute zu bilden, eine Vorstellung von Vergangenheit und Zukunft zu haben sowie von der sich daraus ableitenden Kausalität, und ein selbstreflexives Bewusstsein, das einhergeht mit der sog. „Theorie of Mind“, also dem Vermögen des Menschen, sich ein Bewusstsein vorzustellen, das nicht sein eigenes ist, sondern das eines anderen Menschen, der imstande ist, ebenso wahrzunehmen, zu fühlen und zu denken wie er selbst. Aus diesen Merkmalen des werdenden Menschen ging das Erzählen von Geschichten emergent als überlegene evolutionäre Strategie hervor. War ein Mensch einer gefährlichen Situation ausgesetzt und überlebte sie, konnte er den Mitgliedern seiner Gruppe davon berichten. Er konnte schildern, wie er eine Herausforderung gemeistert hatte oder einer Gefahr entronnen war, und konnte seine Zuhörer dadurch auf ähnliche Situationen vorbereiten und ihnen Lösungsstrategien mit auf den Weg geben. Durch Geschichten wurden also Problemlösungen vermittelt. In dem Geschichten anderer rezipiert und in der Vorstellung nachvollzogen wurden, entstand zudem ein hypothetischer Raum. Auf der inneren Bühne des menschlichen Geistes konnten sich Dinge abspielen, die von den Individuen selbst nicht erlebt worden waren. Es entstand die Fiktion. |
Da der Mensch zudem gelernt hatte, alle
Beobachtungen in narrative Kausalketten zu überführen, um
den Herausforderungen seiner Umwelt planend begegnen zu
können, wurden auch Ereignisse, die für das mensch-liche
Leben essentiell aber unerklärlich waren, mit fiktiven
Ursachen versehen, aus denen wiederum Strategien
abgeleitet werden konnten, um diese Widrigkeiten
vermeintlich zu überwinden, oder sich wenigstens vor ihnen
zu schützen.
So entstanden die ersten mythologischen Narrationen, die die Erlebniswelt des Menschen strukturierten und sich schließlich zu religiösen Systemen ver-festigten. Indem Geschichten tradiert wurden, konnten sie bereits in der Frühzeit zum kulturellen Erbe einer Menschengruppe werden. Die Gruppe konnte sich wiederum über ihre spezifischen Geschichten von anderen Gruppen absetzten und sich selbst definieren. Gleichzeitig entstand beim Erzählenden eine individuelle Identität. Indem er erzählte, setzte er sich von seinen Zuhörern ab. Er wurde von ihnen als der Akteur und Vermittler der erzählten Ereignisse wahrgenommen. Dieses Wahrgenommen-Werden wirkte reflexiv auf die Selbstwahrnehmung des Erzählenden zurück. Nicht das Ereignis selbst, sondern erst das Erzählen und das Gehört-Werden, ermöglichten es, den Unterschied zwischen der eigenen und der fremden Erfahrung zu realisieren. Die individuelle Identität entstand also aus einer Selbsterzählung, ebenso wie die Gruppenidentität aus der Summe kollektiver Erzählungen entstand. Bis heute hat sich weder an dieser psychologischen und sozialen Funktion von Geschichten, noch an deren Grundstrukturen etwas geändert. Da die Geschichten in der Frühzeit des
Erzählens nicht nur von singulären Ereignissen
berichteten, sondern auch von den zyklischen Krisen des
menschlichen Lebens, und sich selbst außergewöhnliche
Ereignisse über die Generationen hinweg wiederholten, kam
es zu Überlagerungen der Geschichten, in denen sich die
erzählten Elemente verdichteten zu wertaffir-
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