Doch ist dieses Danach keinesfalls statisch, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Es ist ebenso in einer Bewegung begriffen, wie das Davor. Die Wagen scheinen durch das Durchschreiten des Nullpunkts vielmehr in einen anderen dynamischen Zustand über- gegangen zu sein, der sich jedoch auf einer vollkommen anderen zeitlichen Skala abspielt, und zudem von gänzlich anderer Qualität ist.

Die Wagen durchmessen zwar nicht mehr wie Sekundenzeiger den Raum, um die Raumzeit erfahrbar zu machen, doch die Bewegung der Wagen ist nicht vollständig zum Stehen gekommen. Sie ist nur in eine vollkommen unerwartete Richtung umgeschlagen: Die Autowracks bewegen sich nicht mehr durch die drei Dimensionen des Raums, sondern ihre Bewegung durch die Vierte Dimension, die Zeit, ist verstärkt und sichtbar gemacht worden.
Die Zeit manifestiert sich nun in ihnen selbst als Vergänglichkeit. Und diese Vergänglichkeit mit ihrem durch die Katastrophe ausgelösten Verfall gibt ihnen erstmal eine Individualität, die ihnen vorher durch die industrielle Anpassung an zunehmende Geschwindigkeit vorenthalten worden ist.


Gleichzeitig ist durch die einschneidende Katastrophe, die die Linearität der Zeit unterbrochen hat, etwas enthüllt worden, was vorher durch die makellosen Oberflächen aus Lack und getöntem Glas verborgen geblieben ist: das Innere der Fahrerkabine, die Struktur der Karosserien, die Motoren, die Federungen der Sitze. Man blickt in die Wagen wie in aufgebrochene Schatzkästchen oder Uhrwerke, deren Aufgabe es nicht mehr ist, eine Funktion und einen Zweck zu erfüllen, sondern die nur noch der Anschauung dienen und damit in die Sphäre von Ästhetik und Bedeutung überführt werden.
Ein weiterer Aspekt, der in diesem Zusammenhang durch die Zerstörung der ursprünglichen Form thematisiert wird, ist die Auflösung der Barriere von Innen und Außen. Die Isolation und Anonymisierung, die durch die weitgehende Abkapselung der Fahrerkabine entsteht, ist durchbrochen und das sich entwickelnde individuelle Innenleben des Objekts kann mit dem Außen in Dialog treten.

Damit korrespondieren auch die Bilder, auf denen ganze Landschaften aus verbranntem und abblätterndem Lack wiedergegeben werden.
Zunächst haben wir auch hier durch eine Verletzung der Oberfläche die Schwelle von der Serialität zu Individualität überschritten. Die gesichtlose Oberfläche ist durch die Einwirkung der Flammen aufgebrochen und hat eine gänzlich eigenartige und unverwechselbare Gestalt angenommen.

Wie bei dem freigelegten Innenleben der Autos entfaltet sich statt der reinen, entindi-vidualisierten Funktionalität eine intrinsische Wirklichkeit: Die Zeichnungen gleichen Satellitenbildern von einmaligen Landschaften, durch die man mit Blicken wandern kann; die keinen linearen Zeitpfeil mehr beschreiben, sondern eine unendliche Zahl von Möglichkeiten und Zeitdauern zulassen.

Und ebenso wie die ausgebrannten Automobile ihre Grenze zwischen Innen und Außen verloren haben, so sind auch diese Bilder nicht durch Rahmen begrenzt. Die der Erosion und damit der Veränderung preisgegebenen Lacklandschaften setzen sich im Geiste auch jenseits des willkürlichen Bildausschnitts fort.


So begegnet uns in allen Werken der Ausstellung die Polarität von Serialität und Individualisierung wieder, das Spannungsverhältnis von makelloser, funktionaler und zeitloser Oberfläche und deren Zerstörung, die die jeweilige intrinsische Wirklichkeit freilegt und sie der Vergänglichkeit preisgibt, unter deren Einfluß sich Anhaltspunkte individueller Sinn- gebung und Bedeutungszuweisung und damit Anhaltspunkte der Identitätskonstruktion ent- wickeln können.

Es bleibt dem Rezipienten überlassen, ob er diese Interpretation in einen individuellen oder gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang stellt.

Die letzten Worte möchte ich Bob Marley überlassen, dessen Song "Real Situation" mir während der Arbeit an diesem Text immer wieder durch den Kopf gegangen ist. Darin werden die Themen von Beschleunigung, Vergänglichkeit und Zerstörung aufgegriffen, und schließ- lich wird auch auf den Dromologischen Stillstand und Kollaps verwiesen, den Paul Virilio vorausgesagt hat:

And there ain't no use: no one can stop them now.
Give them an inch, they take a yard;
Give them a yard, they take a mile;
Once a man and twice a child
And everything is just for a while.
It seems like: total destruction the only solution.


© Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, September 2018

Die 7. Ausstellung zum Jahresprogramm (Keine) Wendemöglichkeit, 2018 des EINSTELLUNGSRAUM e.V.
Präsentation
Vernissage
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