Geschwindigkeit, Oberfläche und Widerstand - Eröffnungsrede von
Dr. Thomas Piesbergen zur Ausstellung "Dorothea Goldschmidt - BREAK“

Die Ausstellung "BREAK" von Dorothea Goldschmidt findet statt in der Galerie des EINSTELLUNGSRAUM e.V., Hamburg, im Rahmen des Jahresthemas: "(Keine) Wendemöglichkeit".

Mit dem Essay „Geschwindigkeit und Politik“ des französischen Philosophen Paul Virilio von 1977 ist die Beschleunigung als bedeutender Aspekt der spätkapitalistischen Gesellschaft in den philosophischen und soziologischen Diskurs eingeführt worden.
Virilio begriff die Geschwindigkeit zunächst vor allem als Kennzeichen der politischen Macht. Gleichzeitig sagte er den sogenannten Dromologischen Stillstand voraus, den Infarkt der Beschleunigung, den wir tagtäglich erleben, wenn eine vollmobilisierte und hochmotorisierte Gesellschaft im Stau steht oder sich die Kommunikationsgeschwindigkeit trotz immer zahl- reicher werdenden Schnittstellen nicht erhöht, sondern mitunter sogar gebremst wird durch die notwendige Bewältigung technischer Mängel, die als Abfallprodukt der Entwicklungsge- schwindigkeit kommunikativer Schnittstellen ebenfalls zahlreicher werden.

Der Philosoph und Soziologe Hartmut Rosa, der heute als führender Forscher auf dem Gebiet der Beschleunigungstheorie gilt, verschob den Schwerpunkt seiner Untersuchungen von dem Verhältnis Macht und Geschwindigkeit auf die soziale Beschleunigung des Menschen, die schließlich keinen Zeitgewinn mehr hervorbringt, sondern ganz im Gegenteil Zeitnot schafft, da die Steigerungsrate der technischen Möglichkeiten die Beschleuni- gungsrate der Verarbeitung übersteigt.

Der Mensch wird also von der Entwicklung, die er selbst in Gang gesetzt hat, überholt, dennoch versucht er permanent, mit ihr Schritt zu halten, und müht sich, die sich vermehrenden Möglichkeiten zu überschauen, zu verstehen und ihr Potenzial für sich nutzbar zu machen, um „auf dem Laufenden“ zu bleiben. Doch da er versucht, mit einer systemischen, synergetischen Beschleunigung Schritt zu halten, die sich exponential steigert, sind seine Anstrengungen von vornherein zum Scheitern verurteilt.
Einen Aspekt der Beschleunigung, der den Erfahrungsraum des Menschen betrifft, haben beide Philosophen jedoch wenig beachtet: die Wechselwirkung von Geschwindigkeit, Oberfläche und Identität.
Dieses Zusammenspiel läßt sich am besten anhand der Karosseriegestaltung von Automo- bilen verbildlichen:

Zwar gab es bereits in den 20er Jahren der 20. Jhd. Ansätze, Karosserien stromlinienförmig zu gestalten, doch da es nahezu keine Untersuchungen im Windkanal gab, entsprachen die Ergebnisse eher den ästhetischen Vorstellungen von Eleganz und Schnittigkeit, als einer tatsächlichen Minimierung des Strömungswiderstands. Modelle wie der „Tropfenwagen“ von Edmund Rumpler von 1921 und der Chrysler Airflow von 1934, deren Karosserien tatsächlich stromlinienförmig waren, konnten sich auf dem Markt deshalb nicht durchsetzen.

Dementsprechend wurden Automobile vor allem unter den Gesichtspunkten der Ästhetik gestaltet, was den Designern große Freiheiten einräumte. Auch wenn die Formen natürlich gewissen Moden unterworfen waren, waren die Marken und Modelle gut von einander zu unterscheiden. Sie waren unter gewissen Gesichtspunkten individuell, und etliche Wagen wurden aufgrund ihres eigenwilligen Aussehens zu Design-Ikonen des 20. Jhds., wie der Citroen DS, der VW Käfer, der Mercedes Benz 300 SL mit den markanten Flügeltüren, die „Ente“, der Heinkel Kabinenroller, der Austin Mini, der Jaguar E Type, der Porsche 356 oder der VW-Bus T1.

Im späten 20. Jhd. wurden die Aspekte von Ökonomie und Geschwindigkeit in der Konkurrenz der Hersteller immer wichtiger und die Forschung im Windkanal zum Standard. In der heutigen Gestaltung einer Karosserie dominiert die Aerodynamik alle anderen Gestaltungsabsichten. Die Oberflächen ordnen sich dem Primat der Geschwindigkeit unter und bieten so wenig Luftwiderstand wie möglich, mit dem Ergebnis, daß sich die Gestaltung der verschiedenen Automobile bis zur Gesichtslosigkeit angleicht.

Die gleiche Entwicklung, also die Normierung der Oberfläche durch Geschwindigkeit, tritt aber auch in Lebensbereichen auf, in denen der Begriff der „Oberfläche“ nur noch von metaphorischem Charakter ist. So werden z.B. digitale Benutzeroberflächen so gestaltet,
daß sie dem User so wenig Widerstand wie möglich entgegensetzen.
Die 7. Ausstellung zum Jahresprogramm (Keine) Wendemöglichkeit, 2018 des EINSTELLUNGSRAUM e.V.
Präsentation
Vernissage
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