Blicke mit Gewicht auf vagabundierenden Abfall
Johannes Lothar Schröder über Antje Bromma: Bremsen und Fliegen

Dieses Wochenende steht Fliegen und Bremsen auf dem Programm des EINSTELLUNGSRAUM. Aus den Nachrichten vom bedauerlichen Absturz einer Spanair-Maschine letzte Woche war ersichtlich, was es heißt, wenn während des Fliegens gebremst wird. Als Ursache des Unglücks wird Schubumkehr vermutet, die bei dieser Maschine nicht wie üblich zum Bremsen nach der Landung, sondern während des Starts ausgelöst worden war. Das gilt als ausgeschlossen, wie Ingenieure versichern. Doch was ist, wenn sich etwas entgegen jeder Vernunft ereignet hat? Also machen Sie sich auf etwas gefasst, wenn morgen unsere zweitägige Performance-Folge Schubumkehr beginnt.

Heute bleibt es beim Fliegen und Bremsen; und es stellt sich die Frage, in welche Dimension wir die Bewegung jeweils hineinlegen.

1. Blicke mit Gewicht
Das Abheben (franz.: décollage) beginnt für Bromma bei ihren täglichen Fahrten mit dem Rad, wie sie im Statement zur Ausstellung schreibt. Ist sie unterwegs, und ihr Blick fällt auf einen Gegenstand, bremst sie, um den Fund zu betrachten. Danach hebt sie ihn entweder auf und nimmt ihn mit oder sie lässt ihn liegen und behält ihn im Auge. Sie merkt sich seine Position und schaut bei der nächsten Vorbeifahrt nach, ob er noch da ist oder ob er sich verändert hat. So werden auch die Objekte, die am Wegesrand liegen bleiben, zu einem Teil ihres Projekts.

Ich muss mich an dieser Stelle kurz selbst unterbrechen; denn es ist eine merkwürdige Metapher, wenn der Blick beschrieben wird, als hätte er ein Gewicht. So ist es jedenfalls, wenn man sagt, er falle auf etwas. Man stellt sich vor, der Blick wird von einem Gegenstand angezogen und er falle darauf. Umgekehrt kann einem ein Gegenstand ins Auge fallen. Diese Metapher lässt den Gegenstand von seinem Platz abheben und lässt ihn durch das Auge in den Gehirnkasten ein, wo er, wenn man bei diesem Bild bleibt, gelagert wird. Eine Sammlung entsteht also zunächst
metaphorisch und konzeptionell und wird durch Bromma als Werk auf den Wegen durch die Stadt oder durch die physische Sammlung in ihrem Studio gegenwärtig.
Das Schauen wird dem Sammeln vorausgesetzt und zum Vorabbild der imaginären Eintragungen im Gehirn, das noch im 19. Jhd. als ein Materiespeicher betrachtet wurde. Die Sprache hat dieses Relikt beibehalten.



2. Irdische und kosmische Prozesse

Unsere Vorstellung arbeitet offensichtlich immer noch in diesem Modus der Anziehungskräfte. Wir erleben, wenn wir aufblicken, diese unzähligen Objekte als schwebende oder fliegende Teile, obwohl sie sich gar nicht bewegen. Das ist wahrscheinlich der Tatsache zu verdanken, dass wir gelernt haben, alles ueber uns Liegende als etwas Erhabenes zu fassen. Über uns spannte sich das Firmament mit Fix-und Wandelsternen, ehe wir das All als unendlichen oder endlichen kosmischen Raum wahrzunehmen gelernt haben. Die Mosaiken der Spätantike und die Fresken des Mittelalters, der Renaissance und des Barock haben diese Übung bestärkt, wobei wir unseren Kopf von der normalerweise auf Ausstellungen üblichen horizontalen Betrachterachse in die Vertikale kippen mussten, um diese Bilder wahrnehmen zu können. Das ist eine Übung, von der die Mächtigen und die um das Seelenheil Besorgten, Gebrauch machen. Die Voraus- setzung für ihre Ansätze ist wohl, dass mit dem Knick der Nackenwirbel Schwindel ausgelöst wird, der uns physisch die Macht spüren lässt oder den Einstieg in eine spirituelle Erfahrung ermöglicht. Eine Ermunterung zum Schweben ist das oder auch eine Tranceinduktion, mit der man sich der Schwerkraft entledigt, um durch die Weiten von Kosmos und Seele zu reisen.
In diesem skizzierten Zusammenhang steht auch die zu wählende Dimension, die ich schon erwähnte. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, um die Wahrnehmung zu kalibrieren, mit der wir uns einer Installation wie dieser nähern. Natürlich bewegen sich ihre Teile im Raum. Sie werden älter, verändern Farbe und Form. Sie sind selten dauerhaft; denn Kunststoffe verlieren mit der Zeit Form und Farbe oder lösen sich auf, verändern ihren Zustand. Weiche Objekte können spröde oder harte Objekte können rissig oder klebrig werden. Nur weil diese Bewegungen so langsam ablaufen, bemerken wir sie nicht. Wir sind uns oft nicht einmal bewusst darüber, dass es sie gibt.
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