Das Kleid wird zur Metapher für Einengung, Verklei- dung, Hülle, Inszenierung.
Man entdeckt einen Stapel mit Oblaten: ein Kind im Laufgitter, Katzen und Hunde in Kleidchen, vernied- licht und verkitscht sind zu sehen.  Eine Abbildung der Tänzerin von Degas zeigt brutal das Extrem zwischen dem duftigen Aussehen des Tänzerin- nengewandes, des "Tüll-Tütüs" und die Diskrepanz zu dem malträtierten, geschundenen Kinderkörper.  Die Verniedlichung und Beschönigung der kaputten Seele wird durch das Gewand kaschiert, Kleidung als Verkleidung.  Bei Waltraut Kiessner sind die Figuren oft beschädigt, verbrannt, verletzt.
Ein Buch mit dem vielsagenden Titel "MENTOR", ein alter Notizkalender für Schüler von 1870-95, liegt daneben, dessen Frontseite zieren Symbole für Wissen und Bildung.  Abschließend finden sich die Hände des Hütchenspiels in der Vitrine; die eine liegt offen, bunt und spielbereit als Katapult da, die andere ist umgedreht, unbenutzbar, wirkt grau, silhouettenhaft und ist mit einem bunten symbol- trächtigen Schmetterling gepaart.
Der Glasdeckel der Vitrine ist in weißer Farbe mit einem Satz aus Peter Handkes Stück  "Kaspar" be- schrieben: "Ich möchte ein solcher werden wie einmal ein andrer gewesen ist."
Die Worte dieses Satzes legen sich bedeutungs- schwer als massiver Schatten auf die Objekte in der Vitrine.
Bei Handke ist Kaspar nicht als historische Figur, ob seiner adeligen Abstammung als Kaspar Hauser problematisiert, sondem als pädagogisches Versuchsobjekt.  Die von ihm so bezeichneten 'Einsager' trainieren und traktieren dieses hilflose Wesen.

Es geht um die entscheidende Frage, ob Wissen im Sinne der Aufklärung befreit oder ob Kaspar abgerichtet, ein Opfer der gesellschaftlichen Ord- nung und Normierung wird? Was bringt die Wider- setzung, Anarchie oder Abweichung? Die Vitrine erinnert in ihrer sterilen Umgebung an Museales, an ein Krankenbett, an einen Glassarg, einen ,Zivilisationssarg', in dem die Materialien des Sozialistionsprozesses eingesargt' präsentiert werden.
Die Parabolspiegel an der Wand, beklebt mit Schmetterlingen und Figuren zeigenden Folien, wirken wie verschattete, geheimnisvolle Augen.  Sie suggerieren Selbstreflektion, Selbstbespiegelung oder Überwachung und Beobachtung.
Während der helle Raum von der Künstlerin wie Einatmen, Aufnehmen (den Motortakten: ansaugen / verdichten entsprechend) empfunden wird, leitet eine hohe Stele, auf der weiße Gewänder gestapelt liegen, in eine Gegenwelt.  Durch einen Türschlitz blickt man in das Dunkel des ehemaligen Kriech-und Kohlenkellers.  Die Gegenbewegung, - das Ausatmen - (den Motortakten: zünden / umwandeln / ausstoßen entsprechend) wird vorgestellt.
Eine zeitliche Intervallbeleuchtung bringt in Abstän- den eine Installation, die auf einer Phosphorbasis gearbeitet ist, zum Erscheinen, Aufblitzen und Verglimmen.

Sichtbar wird ein überlanges Kleid, ein rituelles Gewand, ein Totenhemd vielleicht, das einen langen Weg imaginiert.  An seinem Ende stülpt es sich empor, verändert sich, wird dreidimensional und wirft an der Rückwand einen organischen Schatten.

Das Thema Kleid durchzieht als Grundproblematik die Arbeit der Künstlerin.
Auslöser für das Kleid als Metapher war für sie eine Figur des Bordesholmer Altares in Schleswig, die einmal mit und einmal ohne Kleid präsentiert wird.  Diese Figur wurde für die Künstlerin zum Schlüssel für die vertiefende Beschäftigung mit der Thematik von Figur und Gewand.
Das Kleid wird aber nicht als gesellschaftliches Status- und Repräsentationssymbol im Sinne einer Inszenierung gesehen, sondem steht für Veränderungsprozesse, Durchgangsstationen, Schichtungen, Häutungen, als Metapher für ‘Formation' und ‘De-formation', 'Creation' und ,De-creation'.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und wün- sche Ihnen einen anregenden Ausstellungsbesuch.

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