Die Hand als Werkzeug zur Erkundung der Welt ist in Waltraut Kiessners Video-Installation „Punktum“ im Keller des Einstellungsraum zu sehen.
Eine Hand schlägt wieder und wieder nach fliegende Tennisbälle, will sich ihrer bemächtigen, sie kontrollieren. Um den Monitor liegen ungeordnet aufgebrochene und zerschnittene Tennisbälle. Sie erinnern an das Vorgehen von Kleinkinder, Spielzeug, Alltagsgegenstände, Käfer oder Blumen in ihre Einzelteile zu zerlegen, um ihnen auf den Grund zu gehen, sie begreifen und sich aneignen zu wollen.
 
All die Dinge, mit denen wir uns befassen und mit denen wir geistig umgehen, konstituieren unsere Wirklichkeit - und rückwirkend unser Selbst. Das Buddha-Zitat, das unser Selbst als die Summe all dessen bezeichnet, was wir gedacht haben, läßt sich dahingehend übersetzen, daß wir das interne Archiv all dessen sind, was wir begriffen und erfasst haben - nicht in dem Sinne, daß wir es verstanden hätten, sondern daß wir damit physisch und in Gedanken umgegangen sind und es mit Begriffen belegt haben.

Unser Geist ist also wie unsere künstlich geordnete oder neu geschaffene Umwelt ein Archiv. Doch es ist kein statisches Archiv und es zeigt seinen Inhalt nur, wenn wir aktiv darauf zurückgreifen.

Mit diesem Gedanken beschäftigt sich eine andere Arbeit von Waltraut Kiessner: Ein Raster von Glasscheiben, die meisten davon blind, milchig. Auf manchen aber zeigen sich tastende und zeigende Hände auf Papierfragmenten, deren Form bestimmt wurde von vorher darauf ausgebrachtem Fett, Metapher für aktive, lebendige Energie. Über die Fragmente sind wiederum erste Schichten in verschieden Medien aufgebracht, Fotokopien, Öl, Kreide, Textilien oder Kohle, die sich auf den Händen in weiteren Schichten verdichten. Die Hände stehen für die Arbeit in unserem geistigen Archiv, für den Umgang und die stetige Revision unserer Erinnerungen, mit der wir gespeicherte Dinge für kurze Zeit sichtbar machen, indem wir uns mit ihnen befassen, sie im Diskurs mit der Wirklichkeit abgleichen, abändern oder wieder verwerfen und schließlich auf unbestimmte Zeit wieder verschwinden lassen hinter dem blinden Milchglas schlummernder Erinnerungen.

Doch nicht nur die stetig umgeformten Inhalte des Archivs sind Ergebnis eines Prozesses, auch die metaphorischen Hände selbst, unsere geistigen Werkzeuge der Erkenntnis, sind 
erst durch diesen Prozess zu dem geworden, was uns als vielschichtiges Phänomen entgegentritt. Denn die Hände bestehen aus dem, in das sie hinausgreifen, aus dem, was sie sich aneignen, in dem sie damit umgehen. Wir sehen den Übergang der Außenwelt über das Begreifen in die Innenwelt des Archivs. Das Außen wird zum Innen; das innere und das äußere Archiv spiegeln sich ineinander als strukturierende Strukturen.

Ebenfalls als Arbeit im inneren Archiv kann ein Video gelesen werden, daß eine Hand zeigt, die versucht, einen roten Faden zu entwirren, zu straffen und Knoten in ihn zu schlagen. Der rote Faden entpuppt sich aber als widerspenstig. Kaum ist er gestrafft, schnurrt er wieder zu einem chaotischen Gewirr zusammen, und die Knoten, die Fixpunkte, die wir versuchen in unsere Erinnerung und unsere Biographie zu schlagen, lösen sich wieder von selbst oder werden von der agierenden Hand wieder gelöst.
Und langsam, zuerst unbeabsichtigt, dann in dem Versuch der Substanz des roten Fadens auf den Grund zu gehen, löst er sich auf, bis schließlich nur noch kaum sichtbare rote Flusen auf dem weißen Untergrund zu sehen sind und die Hand reinen Tisch macht, tabula rasa, und die Bühne freimacht für den nächsten Versuch, die Welterfahrung zu ordnen.

In einer anderen Serie von Bildern wird durch eine quasi-narrative Reihung, die einmal mehr das Prozesshafte, das stets Handelnde, das „Duré“ der Handlungstheorie angedeutet.
Die Bilder zeigen Hände, die, nachdem sie die Welt in sich aufgenommen und vielschichtig in sich gespeichert haben, sich im buchstäblichen Sinne mit sich selbst befassen. In einer Reflektion versuchen sie zu begreifen, was die Welt begreift.
Hier begegnet uns einmal mehr das fließende Bewußtsein und das Analogiedenken aus der Urzeit der Kunst wieder, die Entsprechung von Innen- und Außenwelt.

Und wir können darin das uralte, immer wiederkehrende Diktum aller mystischen Lehren entdecken: Willst du die Welt erkennen, erkenne dich selbst! 

ⓒ Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, 2016

Vernissage
Gefördert von der Kulturbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg, Bezirk Wandsbek und VG-Bildkunst, Bonn
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