Looser in digitalen Luftschlössern
Material im Gebiet des Immateriellen
von Johannes Lothar Schröder

Yvonne Wahls Arbeiten lassen sich heute im Bereich der konzeptuellen Bildhauerei verorten. Ihre künstlerische Position verbildlicht sie mittels Video, Fotografie, Installation, Performance, Plastik und Bildhauerei. Die Basis ihrer heutigen Karriere als Künstlerin legte sie mit einer Steinmetzlehre. Eine Frau auszubilden war Ende der 1980er noch eine Herausforderung für viele Handwerksbetriebe1. Bis heute hat es den Anschein, dass Bildhauerei nur als eine körperliche Herausforderung gesehen wird; denn die Wenigsten denken an die mentale Belastung: Was abgeschlagen ist, steht für die Form, die man schlagen möchte, nicht mehr zur Verfügung. Außerdem ist Stein ein Naturprodukt, dessen Struktur nicht immer homogen ist. Folglich gilt es, je nach Qualität der Steine, ein unterschiedlich hohes Risiko hinzunehmen. Bei aller Konzentration und Dosierung der Schläge, kann gerade eine zu schlagende Extremität einen Einschluss enthalten und ... knack ... die Nase, das Ohr oder der Finger bricht ab. Diese Annahme geht von der figürlichen Bildhauerei aus, die in der Kunst heute ein Schattendasein führt, doch kann jedes andere Gebilde aus Naturstein entlang versteinerter Biofilme zerspringen. 

Als Lehrling am Melatenfriedhof in Köln ging es natürlich meist um Grabsteine und -einfassungen, die eher selten figürliche Bestandteile enthalten, doch muss eine Steinmetzin auch Buchstaben in Stein meißeln können. Dazu gehören gute Kenntnisse der Typographie und absolute Präzision. Diesbezüglich schaue man sich das Objekt genau an, welches auch auf der Einladungskarte abgebildet ist. Der Titel-gebende Slogan "believe in art" ist in die Oberfläche des ovalen Objekts gehauen, das wie ein Fetisch aussieht. Wir brauchen nicht zu rätseln, ob es sich dabei um den Kopf eines zeitgenössischen oder prähistorischen Astronauten2, der englischsprachigen Menschen eine Ersatzreligion aufzwingen will, handelt; denn Wahl nennt diesen und seine Begleiter, die hier auf dem Boden stehen, "Looser".  Dieser Begriff ist durchaus auch im Bezug auf die Rolle und Funktion der Steinbildhauerei in der heutigen Kunst zutreffend, denn ihre Blütezeit ist vorbei und die Bildwerke auf Friedhöfen sind nur noch ein Nachhall des Glaubens an die Unsterblichkeit, der seinen Niederschlag in teilweise gigantischen Mausoleen fand.
Heute sind die Mittel mit denen sich Menschen gegen den Tod auflehnen dagegen auch virtueller Natur. Beispielsweise kann ein Selbstmordattentäter davon ausgehen, dass ihm die Medien mit ihren Meldungen und Schlagzeilen irdischen Ruhm garantieren, und falls er fanatisch genug ist, kann er auch noch daran glauben, dass ihm der Schlag gegen Andersgläubige einen Ehrenplatz in den Gefilden der Seeligen sichert.

Raumfahrer oder Kuscheltiere

Betrachtet man die drei anderen Figuren, so geht es mit Anleihen bei der Raumfahrt weiter. Die auf dem Rücken liegende Figur ist außerordentlich ambivalent: Sie könnte einen in dieser Haltung schwerelos driftenden Kosmonauten und genauso gut auch einen kleinen weißen Eisbären darstellen. Die weiß gestrichene Holzplatte unter einer durchsichtigen Plexiglas-kuppel ersetzt ein Gesicht. Schon durch den Materialkontrast  erzeugt die  flache ovale Aus- dehnung des Nackens gegenüber der roh belassenen Epoxydharzoberfläche eine Störung des Gesamteindrucks. Dennoch erzeugt seine Form die Vorstellung von einem Kopf. Der dazugehörige Körper hebt die Plumpheit des im Weltraumanzug steckenden Astronauten hervor und bewirkt den Eindruck von Hilflosigkeit, der etwas mit der Tapsigkeit eines jungen Eisbären gemeinsam hat. Beides wirkt belustigend und weckt auch Schutzinstinkte. Die auf diese Weise beim Betrachter ausgelösten Affekte helfen dabei,  die Unvollständigkeiten die- ses Torsos hinzunehmen und wie auch die anderen Figuren imaginierend zu ergänzen.

Ohne Sockel, auf dem nackten Boden liegend, erregt jede Figur für sich Mitleid, das auch in Nichtbeachtung umschlagen kann; denn das von der Plexiglas-Halbkuppel bedeckte Nichts vermittelt auch eine Unnahbarkeit. Blickt man den anderen ebenfalls tierähnlichen Gesellen an, so hinterlässt die Überkuppelung des Gesichts ebenso ein Gefühl der Leere, die den Eindruck der Abschirmung noch verstärkt. Während dieses Wesen aufrecht sitzt, hängen seine flossenähnlichen Extremitäten hilflos herab und man ist nicht sicher, ob es sich um eine unfertige Figur oder um eine Missgeburt handelt. Allein der etwas abseits liegende Po aus Gips, der wie aus einem klassischem Akt herausgesägt auf dem Boden liegt, könnte aus einer Glyptothek entwendet worden sein, würde sich nicht, von der Seite betrachtet, der Kontur in die abstrakte Form eleganter Schwingen auflösen. Hier werden Affekte erzeugt, ohne dass sich die Künstlerin dem Risiko
1 Im Gespräch erwähnte die Künstlerin, dass selbst die fehlende Damentoilette als Grund bemüht wurde.
2 Erich von Däniken versuchte in den 1970er Jahren präkolumbianische Bildwerke als Astronauten zu interpretieren, welche die Erde besucht hätten, um hier den zivilisatorischen Fortschritt zu inszenieren? Seine Vermutungen bezogen sich auf glatte halbkuppelförmige Gesichtsoberflächen.

Die 02. Ausstellung im Jahresprojekt  Autos fahren keine Treppen  des EINSTELLUNGSRAUM e.V.
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Vernissage
Gefördert von der Behörde für Kultur, Sport und Medien der Freien und Hansestadt Hamburg