Zum Begriff der Wand anlässlich der Finissage von Malte Steiner: Verkehrsfluss | interaktive Installationen.
Elke Suhr, 27.11.09

Zuerst die Bestandsaufnahme:

Dem Betrachter zeigen sich hier offensichtlich zwei Wandformationen
1.    Die Wand aus Holz, die den Ausstellungsraum vom Serviceraum trennt. Diese Wand ist vom Augenschein her kaum von den gemauerten Flächen zu unterscheiden, die den Raum, in dem wir uns befinden, von weiteren Räumen trennen.
2.     Die Wand aus Glas, die Fensterfront des Ladens, ist für den Blick transparent, funktioniert allerdings auch als Raumbegrenzung.
3.    Diese Wand aus Glas scheint durch eine der Projektionen von Malte Steiner augentäuschend den gemauerten Flächen zu ähneln, im Unterschied zu diesen jedoch sehr instabil zu sein, sodass sie in kurzen Zeitintervallen lautlos gleichsam zusammenbricht, jedoch auch problemlos sich immer wieder aufrichtet.

Inwiefern ist die Wand der Rede wert?
 
Die Wand als Projektionsfläche hier wie dort präsentiert unsere tägliche Blickerfahrung, die am Undurchsichtigen ihre Grenze findet. Überraschend ist insofern die Verdichtung von der gegensätzlichen Erfahrung - des Undurch- sichtigen im Durchsichtigen, des Zweidimensionalen als Dreidimensionalem.
Wenn wir dieser Überraschung nachgehen, die Störung unserer Sehgewohnheit verstehend integrieren wollen, müssen wir uns in unbekanntes, zumindest ungewohntes Gebiet begeben, also über eine Grenze hinweg, gegebenenfalls durch eine "Wand" hindurch gehen.

Und darum geht es mir hier, wenn ich Ihre  Aufmerksamkeit beanspruche.
Im Folgenden gehe ich von der Sprache aus, um über das Sichtbare hin eine Deutung zu versuchen.

Der Begriff Wand wird etymologisch und in der Sache von Tätigkeiten abgeleitet, die in den Zeiten früherer Siedlungen im Europa nördlich der Alpen privaten schützenden Raum aus dem von allen nutzbaren Außenraum heraustrennten.
Wie geläufig bekannt, wurden damals die Lücken von Fachwerkbauten im Stän- derbauwerk geschlossen, indem man Weidenzweige umeinander gewunden und anschließend mit Lehm verstrichen hat, bevor Farbe aufgetragen wurde.

Das, was Wand bildete, stammt also vom Winden bzw. Flechten, wechselweise die Außenseite mit der Innenseite verbindend.

Es gibt inzwischen kein neues Wort für diesen Sachverhalt, obwohl wir derzeit mit ganz anderen Materialien unsere Räume schaffen. Die Mauer (murus) jedenfalls hat lateinischen Ursprung und ist insofern ein Lehnwort.
Gilt  dieses Wort Wand noch, verbindet Wand innen und außen noch, indem sie trennt?

Gründlich ist das in diesem Zusammenhang nicht zu klären. 
Meine Rede bezieht sich auf das, wovon Malte Steiner anscheinend hier ausgegangen ist:
Die gläserne Fensterscheibe, durchsichtige Raumbegrenzung mit der Illusion einer Kontinuität zwischen Innen- und Außenraum, wird illusionistisch gestört und deren Transparenz wieder installiert. Die Elemente dieser stillen Installation gleichen Bausteinen einer Mauer (murus) und nicht Elementen eines Geflechtes.
In der Wirklichkeit der Projektion auf die kaum einen Zentimeter starke Scheibe wird eine Folge elektronischer Impulse in mathematische Zeichen umgesetzt, die ihrerseits wieder mit quasi filmischen Elementen gekoppelt sind, die in unseren Gehirnen Erinnerungen an stürzende Bauklötze hervorrufen. Die elektronischen Impulse werden durch einen Bewegungsmelder ausgelöst, der Bewegungen aufzeichnet, die von real existierenden Personen oder bewegten Objekten erzeugt werden, die im Außenraum vorbeieilen.

Ja, und .... könnte man einwenden, was soll's?

Das, was es soll, möchte ich Ihnen nicht beschreiben. Es geht mir vielmehr darum, Sie an die Grenze zu führen, wo ein komplizierter technischer Vorgang, der in unserer lässlichen Sprachgeschichte gründet, bereit steht, Ihr Interesse zu wecken,
Interesse an der Arbeit mit Innen und Außen, Grenze, Illusion und Realität und dann noch zwei Headlines, einmal die unseres Jahresthemas: shared space und dann die der Zeile von Walther Benjamin, * die vollständig lautet:
"Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Dass es 'so weiter' geht, ist die Katastrophe. Sie ist nicht das jeweils Bevorstehende, sondern das jeweils Gegebene. [ ... ] Die Rettung hält sich an den kleinen Sprung in der kontinuierlichen Katastrophe." aus: Passagenwerk, Abschnitt N, Erkenntnistheoretisches. 1927-1940

Katastrophe als Niedergang oder Verfall.
Nicht dass die Klötze in Steiners Projektion (scheinbar) fallen ist also der Niedergang, sondern dass "es" so weitergeht.

Was ist "es"?

Wir kommen an eine Grenze von Selbstverständlichem, an der wir  uns unin- teressiert distanzieren können oder aber einlassen mit der Frage: Was ist dahinter? Was ist das Außen unserer Selbstverständlichkeit?

Im shared space, dem hier schon mehrfach vorgestellten Jahresthema, bzw. dem aktuellen Verkehrskonzept, schneiden die Lebens- bzw. Bewegungsräume der jeweiligen Teilnehmer immer wieder einander, d.h. definieren sich jeweils neu, bedingt durch die jeweilige Geschwindigkeit im beanspruchten Straßenraum.
 
Hier, in der interaktiven Installation von Malte Steiner, werden die Bewe- gungsräume der Passanten von der Glasscheibe unseres Ladens geschnitten, was vom Bewegungsmelder registriert wird und im Illusionsraum der stürzenden „Blöcke“ sich anzeigt.
Frage bleibt, ob uns bewusst ist, inwiefern wir unsere Haltungen, Bewegungs- oder Denkmuster gegenseitig schneiden, eventuell zum Einsturz bringen, indem wir uns begegnen und wer der, das ganz andere, jeweils ist. Sind wir einander die Katastrophe oder lassen wir Bewusstseinssprünge zu, die eventuell auf einem neuen Niveau dieses "es" umkehren?
Die 9. Ausstellung im Jahresprojekt shared space 2009 des EINSTELLUNGSRAUM e.V.
weitere Bilder der Installationen siehe auch http://esc.mur.at/destatik.html
Gefördert von der Behörde für Kultur, Sport und Medien der Freien und Hansestadt Hamburg und Bezirksamt Wandsbek
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