Zwischen Innen- und Außenwelt - Dr. Thomas Piesbergen, Eröffnungsrede für Sylvia Schultes "Sonar-Linien", EINSTELLUNGSRAUM, 01.04.2015

Das aktuelle Jahresthema des EINSTELLUNGSRAUM lautet „Wo Geräusch auf der Gassen ist, da gehe fürbaß.“
Dieser Satz von Matthias Claudius, den er an seinen Sohn schrieb, war von ihm gemeint in dem Sinne einer Warnung, man solle die lärmigen Gassen besser meiden und zügig voran schreiten. Doch dieser Satz birgt auch die Gefahr des Mißverständnisses, welches im ersten Moment auch der Künstlerin Sylvia Schultes unterlief, als sie ihn zum erstenmal las. Sie verstand ihn im Sinne einer Aufforderung, sich zu der Quelle des Geräuschs zu begeben.
Dieses Mißverständnis, diese konträre Auslegung des Claudius-Zitats, möchte ich als Ausgangspunkt nehmen, um mich der Arbeit von Sylvia Schultes zu nähern.

Matthias Claudius empfahl, den Tumult, das Gewühl der Welt zu meiden und statt dessen die Stille und die Einsamkeit zu suchen, sicher im Sinne einer Einkehr, im Sinne des Lauschens auf die Innere Stimme und einer Hinwendung zu Gott; Aspekte einer Lebensführung, die sowohl für den religiösen Menschen, wie auch für den Dichter - Matthias Claudius war beides - notwendige Rahmenbedingungen sind, und die auf etwas verweisen, das man als den inneren Weg der Erkenntnis bezeichnen kann.

Der Mensch, der den inneren Weg beschreitet, wendet sich von der Welt der Erscheinungen ab und sucht in sich selbst nach einer Antwort auf die Frage nach der Beschaffenheit der Wirklichkeit. Die Grunderfahrung dieses inneren Weges ist subjektiver Natur und wird erreicht durch Meditation, Versenkung und hellsichtige Momente tiefer Einsicht. Sie erzeugt ein real wirksames und konsistentes Konzept der Wirklichkeit. Doch sie schlägt sich nur nieder im
Erfahrungsraum des Einzelnen und ist niemals adäquat mitteilbar, sie widersetzt sich mitunter sogar der Mitteilung, wie Lao-Tse im Daodejing konstatiert hat: „Wer es sagt, weiß es nicht. Wer es weiß, sagt es nicht.“
In einem Film der Star-Trek-Reihe fragt Dr. McCoy den vom Tode zurückgekehrten Mr. Spock, wie es sei, zu sterben. Spock antwortet, er würde es ihm gerne sagen, McCoy würde es aber nicht verstehen. Auf die Frage, warum er es nicht verstehen würde, antwortet Spock ebenso schlicht wie bedeutsam, McCoy würde es nicht verstehen, da er selbst noch nicht gestorben sei.
Dieser kurze Dialog ist kennzeichnend für Einsichten, die auf dem Inneren Weg gewonnen werden. Es ist der Weg der Gnosis, der Erleuchtung, der Mystik, der in Europa nachweislich seit der klassischen Antike beschritten wird, wie z.B. in den Dionysischen oder Eleusinischen Mysterien.

Doch so wie es einen inneren Weg der Erkenntnis gibt, so gibt es auch einen äußeren Weg. Der suchende Mensch wendet sich nicht von der Welt ab, um in sich selbst Antworten zu finden, sondern er wendet sich der Welt, den Erscheinungen, der Dinglichkeit zu.
Die Praxis des äußeren Weges besteht in der wiederholten, geteilten und kollektiv rückversicherten Beobachtung. Deshalb ist die Grunderfahrung dieses Weges immer empirischer und sozialer Natur. Der äußere Weg erfordert den Diskurs und führt zu der Fixierung wiederholter Beobachtungen in Form eines sozialen Konsens` oder der Formulierung von wissenschaft-lichen Gesetzmäßigkeiten. Auch er führt zu einem real wirksamen Konzept der Wirklichkeit, das jedoch nicht auf das persönliche Urteil, sondern auf eben diesen Konsens zurückzuführen ist und aufgrund dessen sozialer Natur als kulturelle Struktur tradiert wird.
Dieser Weg wird in Europa ebenfalls seit der klassischen Antike beschritten, seit der Mensch sich von dem mythischen Verständnis der Welt gelöst hat. Die Traditionslinie hat sich von dort ausgehend ungebrochen bis in unsere modernen Wissenschaften fortgesetzt.

Vernissage
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