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             4. Neustart 
          Was hat es auf sich mit einem Sprung, der unternommen wird, um zu überleben? Warum ist der Einschlag auf die Bretter für ihn lebensrettend gewesen? Vielen Zuschauern, mit denen ich nach Steens Erzählung sprach, war nicht klar, dass Steen diese Aktion unternommen hatte, um weiter zu leben. Es klingt wie Blasphemie, doch ist sein Vorsto§ ein Test, ein Sprung ins Unbekannte, ein Vorstoß gleichsam auf die dunkle Seite. Ein Hinweis auf das Foto, das den Sprung des Yves Klein von einer Mauer in eine Straße zeigt, drängt sich auf. Das Bild sollte die Leere und das Nullgefühl verkörpern, einen Eindruck, der erst durch eine Fotomontage möglich wurde, welche die Vorkehrungen zum Auffangen des Künstler in einem Sprungtuch unsichtbar machte. Diese und andere Versuche belegen die Anstrengungen, die oft unternommen werden, um die andere Seite des Lebens zu erreichen, wobei das Risiko nicht zurückzukehren unabwägbar hoch ist. Doch wie Jean-Paul Sartre über Gustave Flaubert schrieb, gibt es diese Anstrengungen in der Kunst: "... der Tod ist das Unkennbare. Um ihn zu kennen, müsste man überleben. Genau das aber will er (Flaubert)(5)." Nun konnte Flaubert als Schriftsteller mit den Worten auf Papier experimentieren, doch hat er sich, wie seine Biographie zeigt, auch mit den Grenzen und ihrer Überschreitung auseinandergesetzt, um sich danach in seiner Arbeit als Schriftsteller daran abzuarbeiten. Es ist nicht nur das äußerliche Material, sondern auch der Körper als Material des Lebens, das sich dem Menschen entgegenstellt, um überwunden zu werden. Diese komplexe Verquickung von materiellen und immateriellen Aspekten hat keiner stärker verdichtet als Yves Klein, der seinem Sprung in die Leere durch die berühmte Fotomontage, ausgeführt von Harry Shunk, ein glaubwürdiges Erscheinungsbild gab. Nicht die Aktion selbst, sondern das Foto, das bis heute als authentisches Bild gesehen wird, weist die eindringliche Wirkung einer Ikone auf, die nicht durch die Religion, sondern durch die Kunst nachträglich vom Leben abgespalten wurde. Die mögliche reale Gefährdung des Lebens, die sich bei Klein anekdotisch einstellte, ist nicht emblematisch, erhöht aber die Wirkung durch die Kraft der Legende. Bei Steen, der aus Verzweiflung sprang, ist es die Erzählung, deren Realitätsgehalt durch den Erzähler selbst beglaubigt wird. Er ist das Dokument seines eigenen Handelns und seine Bewegungen legen das Zeugnis seines Handelns ab. War es bei Rudolf Schwarzkogler noch so, dass man seinen tödlichen Fenstersturz - von Yves Kleins Bild abgeleitet - nicht als einen Unfall sehen wollte, sondern als ein misslungenes Kunstwerk hinstellte, um den Aktionismus zu diskreditieren(6), so haben sich 40 Jahre danach in der Organisation und Bewältigung des Selbstmordversuchs von Holger Steen Elemente künstlerischen Handelns eingestellt, die von ihm selbst zu Performances weiter entwickelt worden sind. Steens Erzählung lässt das Bild im Kopf seiner Zuhörer entstehen, bis sie begreifen, dass dessen Körper Zeugnis seines Handelns ist. Schon 2007 hatte er das Mobiliar des Krankenhauses nachgebaut, um in dieser Installation eine erste öffentliche Erzählung zu wagen. Danach trugen Filme und weitere Performances dazu bei, einen geeigneten Erzählmodus zu finden, um dieser Grenzerfahrung eine Gestalt zu geben. Auf diese Weise  | 
          
              transformierte
                die öffentliche Erzählung die Verzweiflungstat in eine
                glaubwürdige Geschichte, die letztlich durch eine
                Verkettung von Zufällen im EINSTELLUNGSRAUM eine
                überraschende Pointe fand. Als Steen nämlich seine
                Geschichte vortrug und gerade darüber berichtete, dass
                seine letzte Erinnerung vor dem Aufschlag das Pfeifen
                der Luft an seinen Ohren war, krachten vor dem
                EINSTELLUNGSRAUM auf der Wandsbeker Chaussee zwei Autos
                zusammen. In der Geschichte verlor Steen das
                Bewusstsein. Er wachte zwischendurch nur einmal noch auf
                und sah Sanitäter, die sich über ihn beugten. In der
                Realität der Performance erreichte in diesem Augenblick
                der Notarztwagen den akuten Unfallort vor der Tür des
                EINSTELLUNGSRAUM. 
          Diese Ereignisse verstärkten natürlich das Unheimliche, das einen beim Zuhören dieser Geschichte sowieso schon beschlich. Es war unglaublich genug, dass sich der Unfall genau im treffendsten Moment ereignete und dem Bezeichneten einen magisches Moment gab, doch die auf diese Weise zufällig herbeigeführte Verschränkung des erzählten und des realen Aufschlags verdoppelte den Sturz und verlängerte in diesem Falle die Tiefe des Abgrundes, der für Steen schließlich zum Sprungziel wurde. Das Zusammentreffen von Erzählung und aktuellem Geschehen verkörperte auch die Ferne zwischen dem Ich und dem Anderen, die um so beängstigender wirkte, als das Publikum hier das Opfer leibhaftig vor sich hatte, das gerettet wurde und von der Querschnittslähmung und anderen Verletzungen – wenigstens halbwegs – genas. Peggy Phelan bezieht sich auf Anthropologen, die vorschlagen, Rituale, Kunst und Theater als Begegnungsmöglichkeiten mit dem Tod zu sehen, um die paradoxe Frage zu stellen, ob es nicht möglich wäre, Leben als die gesuchte Hervorbringung zu sehen, welche durch Rituale, Kunst und Performances zum Vorschein kommt (7). Dafür dass Kunst und Rituale Geburtshilfe leisten und dem Wiederaufleben von Vegetation und Tierwelt, sowie der Fruchtbarkeit dienen, hat Hans Peter Dürr zahlreiche Belege aus der Vor- und Frühgeschichte sowie der Mythologie zusammengetragen. In vielen Ritualen gibt es kultische Sprünge, in denen die Bewegungen zwar den Tod durchlaufen aber auf das Leben ausgerichtet sind. So im Tanz der Kraniche und im Sprung über den Stier(8). In der Aktualisierung des Gangs durch den Tod wird offensichtlich versucht, das im Leben nicht Gewährte oder Erreichbare im Umweg über den Tod zu erobern(9), wobei die Jenseitserfahrung, ähnlich wie das Ritual, tatsächlich einen Bruch im Zeitkontinuum auslöst, so dass die Rückkehr vom Sprung aus dem Leben, ein Leben ermöglicht, das zeitversetzt als ein anderes fortgeführt werden kann. Wobei man weder von einem tatsächlichen Neubeginn noch von einer Fortsetzung sprechen kann, sondern eher von einer Wiederaufnahme oder einem Re-doing desselben. Dabei wird der noch existierende Körper neu in Beschlag genommen. Das Durchlaufen einer Jenseitserfahrung erlaubt allerdings kein Weiter-so, ist also nicht als wirklicher Neuanfang zu beurteilen, sondern der noch existierende Körper wird neu "in Beschlag genommen". © Johannes Lothar Schröder  | 
        
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          5 Idiot der Familie, Bd.
                    3., Reinbek b. Hamburg 1978, S. 1140 6 Der am. Kunstkritiker Robert Hughes lancierte 1972 dieses Gerücht über Schwarzkoglers Tod am 20. Juni 1969 nach einem Sturz vom Balkon. J.L.S.: Identität. Überschreitung/Verwandlung, Münster 1992, S. 92/93. 7 On Seeing the Invisible: in: Adrian Heathfield (Ed.) LIVE, Tate Mod., London 2004, p. 16-27, p. 17. 8 H-P.Dürr: Sedna oder Die Liebe zum Leben, Frankfurt am Main 1984, S. 163 Ð 193. 9 Schon allein deshalb verstäßt der Selbstmord auch gegen das Jenseitsmonopol, das die institutionalisierten Religionen behaupten  |