Die Sprache des Betons

Dr. Thomas Piesbergen
Eröffnungsrede zur Ausstellung "Passage" von Jost Hinrichsen im Einstellungsraum e.V. zum Jahresthema "Wo Geräusch auf der Gassen ist, da gehe fürbaß."
(Matthias Claudius, 1799)

Die Wirklichkeit des Menschen ist ein unermessliches und vielschichtiges Netzwerk von Symbolsystemen, Reglements, Konventionen, sozialen Strukturen, psychogeographischen Konstruktionen, individuell assoziierten Bildern, Stimmungen, Erfahrungen und Erinnerungen. Und sie ist, da der Mensch ein soziales Tier ist, vor allem kommunikativer Natur.
Die Dinge, die uns umgeben, erlangen erst Bedeutung, indem wir sie benennen und ihnen Bedeutung zuschreiben, sie in die Strukturen unserer Wahrnehmung einfügen: in die Strukturen unserer Sprache und unserer Symbolsysteme.

Vor allem der Mensch in der Stadt ist wie eine Zwiebel eingehüllt in kommunikative Schichten. Mit der Art, wie er sich kleidet, sendet er Botschaften aus, die auch rückwirkend seine Selbstwahrnehmung erheblich beeinflussen können. Ebenso empfängt er unablässig Botschaften dieser Art von seinen Mitmenschen. Er kommuniziert verbal oder verstümmelt-schriftlich per Smartphone, während er den Blickkontakt mit Passanten sucht oder vermeidet. Er bewegt sich innerhalb der regulierenden Strukturen des Verkehrs aus Schildern, reglementierenden Bodenmarkierungen und einer Vielzahl mehr oder minder verbindlichen Handlungsroutinen. Er empfängt Werbebotschaften und gleicht sie mit seinen Bedürfnissen, seinem Verlangen und seinem Wertesystem ab. Er empfängt akustische Signale, Geräusche, Musik, Satzfetzen in der eigenen oder in fremden Sprachen. Er liest Gesten und Mimik, Schlagzeilen, Namen. Er spricht auf der Objektebene, signalisiert etwas anderes auf der Beziehungsebene, zielt auf der Appellebene auf wieder etwas Abweichendes. Er wittert die künstlich erzeugten Aromen von Butter, Schokolade und Gebäck, die seinen Appetit wecken sollen, die zyprischen Wellnesdüfte in Wartezimmern, den Kneipenmief, den Duft von Blumenläden, Räucherwerk, Abgas aus Tiefgaragen, die persönlichen olfaktorischen Masken, mit denen Passanten versuchen, den Eigengeruch zu überdecken und sich einen dem Selbstbild entsprechenden Duft zu geben…
All diese Dinge kennzeichnen das Leben in der Stadt und machen es, je nach ihrer Vielfalt, ihrer Ausgewogenheit, ihrem Temperament, ihrer Intensität, aufregend, langweilig, furchteinflößend, mühsam, inspirierend, exotisch, anheimelnd, stressig oder entspannend.
Und während der Mensch, gehüllt in diese flimmernde, sinnesbetäubende Kommunikationswolke, von einem für sein Alltagsleben relevanten Ort zum anderen reist, bewegt er sich fast unmerklich durch infrastrukturelle Räume, oft auch als Un-Ort bezeichnet, die lediglich der Passage dienen, dem Durchgang.

In der Stadt sind es fast immer Orte, die architektonisch gestaltet sind, die ihre Ordnung des Raums dem gezielten Eingriff des Menschen zu verdanken haben und wiederum auf die Handlungsmuster des Menschen einwirken. In der Kulturtheorie werden solche Kontexte auch als strukturierende Strukturen bezeichnet. Und obwohl diese Strukturen, die non-verbale Kommunikation der Architektur, stets präsent ist, wird sie meist nur unterschwellig wahrgenommen, als Kulisse oder als Hülse für das vielschichtige und flüchtige Netzwerk anderer Kommunikationsformen.
Der amerikanische Schriftsteller Thomas Wolfe fand für diese zwei Sphären urbaner Wirklichkeit eine treffende Metapher in dem Romantitel „The Web and the Rock“ (dt. „Geweb und Fels“).
Dieses „Geweb“, das Formlose, Vielschichtige, Lebendige, das in der urbanen Kultur stetig an Dichte und Intensität gewinnt, kann als das „Geräusch in der Gassen“ von Matthias Claudius verstanden werden, als die dichte Wolke der Kommunikation, die die Sinne besetzt hält. Einerseits macht dieses „Geweb“ den Menschen aus, denn daraus formt er zu einem großen Teil seine Identität, zum anderen aber belegt es die Aufmerksamkeit, bzw. prädisponiert seine Wahrnehmung derart, das die Umgebung nur fragmentarisch und maskiert zu Bewußtsein kommt.

Doch was geschieht mit unserer Wahrnehmung, wenn wir den Rat von Claudius in dem Sinne befolgen, in dem wir das Geräusch zwar meiden, nicht aber die Gassen an sich? Wenn wir einen Blick auf unseren urbanen Lebensraum werfen, nachdem man ihn weitgehend von allem „Geräusch“, von allem „Geweb“, von aller ephemeren Kommunikation befreit hat?
Dieser Frage ist Jost Hinrichsen nachgegangen. In der Serie „Passage“ unternahm er gezielt Exkursionen durch den urbanen Kontext auf der Suche nach Orten, die zum einen an massiv frequentierten Verkehrsadern gelegen sind, und die zum anderen selbst vor allem der Passage dienen.
Gefördert von der Kuturbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg und Bezirk Wandsbek
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