Kartierung von Platten
Von Bodenplatten an die Wand und zur Netzmetapher

Johannes Lothar Schröder über die Ausstellung
"Peripherie oder jenseits der Grenze beginnt die Fremde" von Marnie Moldenhauer

I. Drei Übertragungen und Interpretationen
Im Hauptraum sind drei Arbeiten ausgestellt, welche die mit Platten belegten Konsolen und die Schaufensterplattform des EINSTELLUNGSRAUMs wiedergeben, die von seiner früheren Innenraumgestaltung als Blumenladen geblieben sind. Marnie Moldenhauer hat die Anordnung der Platten und Fugen auf Nesselgewebe übertragen und die Oberflächen als Malerei interpretiert. Die Ergebnisse dieses Prozesses hängen nun gekippt und gedreht an der Wand, weshalb man die horizontalen und vertikalen Bewegungen nachvollziehen muss, um einzelne Platten mit ihren malerischen Umsetzungen zu vergleichen. Zunächst also gilt es, die Orientierung herzustellen, damit die Detailtreue, mit der die Künstlerin den Umriss jeder Platte und das Netz der Fugen mittels Acrylfarben wiedergegeben hat, bemerkt werden kann. Dagegen sind das Titanweiß der Fugen sowie die Farbigkeit der Oberflächen der tatsächlich ueberwiegend cremefarbenen, ungeschliffenen und leicht unebenen Platten des Natursteins aus dem Fraenkischen Jura erfunden. Mich erinnert die Palette an geografische Karten, auf denen Gelände und Vegetationsschichten wie Wald in Dunkelgrün, Weideland in Hellgrün, Steppe in Ocker, Wüste in Umbra oder Gletscher in Weiß wiedergegeben sind. Rote und blaue Einsprengsel stehen für Orte oder Seen.
Moldenhauer sagt, dass damit eine „zweite Ebene“ in den Raum gelegt worden wäre, denn die Bilder haben die prägnanten Oberflächen der Raumgestaltung aus den 1960er Jahren verdoppelt und in den Raum verschoben. Dabei streift Moldenhauer Arbeiten von Rachel Whitehead oder Heidi Bucher, die z.B. mit Beton oder Latex Abformungen ganzer Räume vorgenommen haben, um sie in andere Kontexte zu versetzen oder sie zwischen Bäumen und an einem Kran aufgehängt zum Wehen und Fliegen1  zu bringen. Diese Technik der Spurensicherung und des

Abformens wird von Moldenhauer aber nicht primär zur Sicherung von Oberflächen ausgeführt, sondern wird als ein Raster weiter verwendet und durch Malerei verändert. Ist es bei Bucher das Fliegen der Raumhaut, so ist es hier die Malerei, die das Dokumentarische des Abgießens und -formens hinter sich lässt, und auf eine anders kodifizierte Ebene hebt. Bleiben bei Bucher noch signifikante materielle Spuren an den Kunststoff- oder Gummiemulsionen, also an der Negativform, hängen, so orientiert sich Modenhauer an der positiven Seite der Abpause, die ihr als Raster dient, um eine farbige Ebene eigener Symbolisierungen einzuziehen, welche die Anmutung des Raums abstrakt auflöst und durch Bezug auf kartografische Konventionen verändert. In ihrer Zweidimensionalität auf die gegebene handwerkliche Installation des Raums bezogen, wird hier allerdings die räumliche und zeitliche Ausuferung der Kunst von der Malerei zur Aktion und Installation seit den 1950er Jahren zurückgenommen, wodurch ein neues Licht auf die Besonderheiten der Rückführung des Raums auf die Fläche fällt.

II. Identifizierung der Handwerkskunst und Referenzen zur Innenarchitektur
Die Arbeit verweist auf den Belag der Konsolen, der im Einstellungsraum, bedingt durch seine frühere Innenraumgestaltung als Blumenladen eine inzwischen Geschichte gewordenen Ästhetik bewahrt; denn die Platten aus dem fränkischen Jura sind eine typische Erscheinung der Innenraumgestaltung des 20. Jahrhunderts. Die Steinbruchbetriebe von Solnhofen und Kehlheim produzierten die Kalkplatten gewissermaßen als Abfall, der bei der Gewinnung besonders dicker Platten aus den feinkörnigen und homogenen Schichten des fränkischen Kalkschiefers anfiel, aus dem lithografische Steine für die Druckindustrie gefertigt wurden. Die hohe weltweite Nachfrage führte bis in die 1960er Jahre, als sich die schnellere Offset-Drucktechnik durchsetzte, zu großen Mengen Abraum mit dünneren und mit Einschlüssen durchsetzten Kalkplatten, die als Baumaterial vermarktet wurden. Risse, Poren und Einschlüsse von Fossilien2 gaben den Steinen ein dekoratives Potential, das durch Schleifen und Polieren der Oberflächen noch gesteigert werden konnte, so dass Solnhofener Plattenkalk für Boden- und Treppenbeläge, Gesimse und Fensterbänke
1 Heidi Bucher: Hautraum (Ahnenhaus), 1980 – 82, in: Heidi Bucher / Mother of Pearl 1926-1993,
Migros Museum für Gegenwartskunst, Zürich 2004.

Vernissage
2 Berühmt sind die drei bislang in Solnhofen gefundenen Abdrücke des Urvogels „Archäopterix“. Daneben gibt es ganze Fische und nahezu vollständig herauspräparierte Pflanzen in den lokalen Museen der Steinbrüche und in naturgeschichtlichen Sammlungen auf der ganzen Welt.
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Gefördert von der Behörde für Kultur, Sport und Medien der Freien und Hansestadt Hamburg 
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