II.    Unterdrücktes Verlangen

Wenn wir über Sinne und öffentlichen Verkehr nachdenken, müssen wir uns auch mit der Unterdrückung von Sinnlichkeit befassen; denn die Tätigkeit der Sinne kann Wünsche und Verlangen wecken, was den Umgang mit anderen Verkehrsteilnehmern beeinflusst. Durch die Konditionierung, das heißt: durch Aufmerksamkeit und Rücksichtname werden die Aktivität unserer Sinne und die daraus folgenden Handlungen aber primär auf die Einhaltung von Konventionen und auf Vermeiden ausgerichtet. Weil wir anderen Verkehrsteilnehmern keinen Schaden zufügen, sie also nicht über den Haufen fahren oder sie überrennen dürfen, geschieht nicht alles, was möglich wäre.1  Die Sinneseindrücke, die unser Bewusstsein erreichen, sind also schon einer Filterung unterzogen worden. Durch Erziehung und Strafandrohung erzwungener Respekt und Achtung überwältigt das triebhafte Ausleben von Wünschen und Begierden2  und verlagert sie auf ungefährliche Bereiche der Selbstdarstellung und des Verhaltens, wie Konsum und besonders angesagte Kleidung sowie Autos und Zubehör. Hierin verkörpert sich im Sinne der psychoanalytischen Definition des Fetischismus die Abkehr vom ursprünglichen Triebobjekt zugunsten eines Ersatzobjektes. Nicht von ungefähr weist die Metaphernsprache über die Verhaltensweisen im Verkehr Parallelen mit den Bezeichnungen des Sexualverhaltens auf, was jeweils daran liegt, dass wir aufgefordert sind, unsere spontanen Eingebungen zu zügeln und unser Verlangen zu mäßigen. Dieser eigentlich schwierigen Aufgabe kommt es entgegen, dass „Symbole dazu dienen, das Symbolisierte unbewusst zu halten.“3  So gibt augenscheinlich kaum jemand dem Verlangen nach, denn die Regeln zu missachten, hieße das Verdrängte aufzudecken. Wenn im shared space die Schwelle für die Auslegung der Regeln vielleicht ein Stück weit abgesenkt wird, so wird diese durch eine steigende Selbstkontrolle des Einzelnen mehr als kompensiert.
Die Objekte von Mika Neu erzählen Geschichten, die sich solchen Zusammenhängen aus dem Blickwinkel des Aberglaubens nähern. Deren Anhänger hielten und halten es nicht nur für unschicklich sondern auch für gefährlich, in den Blusenärmel einer Frau zu schauen, um nicht zu riskieren, dort den Teufel zu Gesicht zu bekommen. Wer meint, dass solche Tabus nach der Aufklärung unwirksam geworden wären, der irrt, auch wenn heute ärmellose Kleidung üblich ist. Die Aufforderung in italienischen Kirchen die Schultern zu bedecken ist eher ein marginaler Taburest, stattdessen aber greift die  aus den USA kommende Sitte, sich die Achselhöhlen zu rasieren, weltweit um sich. Die Furcht vor dem Teufel hat sich also kulturell verschoben, verschwunden ist sie freilich keinesfalls. Es ist die Furcht vor Erregung und Kontrollverlust, die nach wie vor grassiert, und es sind solche Motive des Volks- und Aberglaubens, die Mika Neu aufgreift und hier in der Installation des Objektes „Teufelsrohr“ vorstellt. Diese Installation sieht man bereits im Schaufenster stehen, ehe man den EINSTELLUNGSRAUM betritt. Rohr, Ständer und Sockel sind mit einer geronnenen triefenden Substanz beträufelt, so dass es einen abscheulichen Eindruck macht. Der Sockel aus Teer, also einer traditionell dem Teufel zugeordneten Substanz, die wie der „Leibhaftige“ nach Pech und Schwefel stinkt, ist mit mehreren Schichten zerlaufener Farben überkrustet, die einen chaotischen Eindruck hinterlassen, der nur dadurch etwas abgemildert wird, dass die marmorierte Masse an der Oberfläche aus hellen pastellartigen Farben besteht, wobei die Farbstalaktiten allerdings die Anmutung einer erstarrten schleimigen Masse hinterlassen, die an den Spezialeffekt-Speichel in den Filmen Alien I-III erinnert. An der dem „Teufelsrohr“ gegenüber liegenden Wand entweicht ein armstarker Schwall schwarzer Substanz einem runden Goldrahmen. Neu sieht darin eine „Emanationsöffnung“, durch die das Teuflische ebenso wie das Göttliche austreten kann. Der mittels „Teufelsrohr“ direkt darauf gerichtete Blick verleiht dem Objekt eine gewisse Ausschließlichkeit. Einmal abgesehen vom Sexuellen und sonstigen Metaphern ist es
Die 7. Ausstellung im Jahresprojekt shared space 2009 des EINSTELLUNGSRAUM e.V.
Vernissage
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                2009
1 Mit dem Aufkommen der ersten Videospiele wurde die Jagd auf Fußgänger zum Ziel des virtuellen Autofahrens. 1976 kam Death Race als erstes Game auf den Index „jugendgefährdender Schriften“. Dieses Exempel wurde auch am Computerspiel Street Racer statuiert.
2 „Daß es die Sehnsucht der Menschen nach anonymen, riskanten, abenteuerlichen Situationen ist, die das Autofahren noch weit vor dem Sport zum wichtigsten agonalen Erlebnis in der verwalteten Welt macht.“ schrieb Michael Mönninger über Das Gewaltmonopol im Straßenverkehr in: Berliner Zeitung vom 7. Juli 1998
3 Tilmann Habermas: Geliebte Objekte. Symbole und Instrumente der Identitätsaneignung, Habilschrift Heidelberg 1995, Berlin 1996, S. 308
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