Die erinnerte Wirklichkeit - Einführungsrede von Dr. Thomas Piesbergen zu der Ausstellung „Heilwig Jacob: p-e-r-m-e-a-b-e-l“

In unserem Alltagsbewußtsein sind wir gewohnt mit sogenannten Fakten umzugehen. Man hat sich darauf geeinigt, was wirklich ist und was nicht. Wir schreiben Menschen einen guten Realitätssinn zu oder bezeichnen ihr Weltbild als wirklichkeitsfremd, ihre Vorstellungen als sachlich und vernünftig oder unrealistisch. Das alles impliziert, wir wüßten ganz genau, was es mit dieser Wirklichkeit auf sich hat, was sie ist, wie sie zustande kommt, und zudem, daß wir in der Lage wären, sie vollständig zu erkennen.
Direkt gefragt würden reflektierte Menschen sicher zugeben, vieles könne man selbstverständlich nicht wissen, doch je weiter man diese Fragestellung vertieft, desto klarer wird, daß die meisten nur bereit sind, ihr bis zu einer gewissen Grenze zu folgen. Jenseits davon klammern sie sich wieder an mutmaßliche Gewissheiten. Denn ohne diese mutmaßlichen Gewissheiten würde sich dem Menschen ein furchteinflößender Abgrund auftun, der all unsere Sinnkonstruktionen und damit unsere Handlungsgrundlagen in Frage stellt.


Doch wie kommt das, was wir als Wirklichkeit bezeichnen, nun zustande? Warum glauben wir, umwandelbare Tatsachen erkennen zu können?

Wenn Kinder beginnen, sich in der Welt zu orientieren, beschäftigen sie sich meist mit einzelnen Wahrnehmungskomplexen, die durch Beobachtung und Fragen wieder und wieder durchdrungen werden. Das was Eltern gerne in den Wahnsinn treibt, daß sie innerhalb einer Woche ein und dieselbe Frage dutzende, vielleicht hunderte male beantworten müssen, ist für die Ausbildung des Realitätssinns des Kindes eine unabdingbare Rückversicherung. Denn es gilt festzustellen, ob die Muster, die es zu erkennen glaubt, auch wirklich einer Überprüfung standhalten, und ob das, was sie als unwandelbare Tatsache vorgesetzt bekommen, auch wirklich unwandelbar ist!

Das Anerkennen einer Erscheinung als Wirklichkeit besteht also in der Wiederholung einer Beobachtung und einem entsprechenden Abgleich mit dem vorher Wahrgenommenen. Das Ergebnis ist ein Set von Mustern, die herangezogen werden, um jede neue Beobachtung einzuordnen, und die sich bestenfalls kontinuierlich weiterentwickeln, komplexer werden und sich auf höheren Ebenen zu Meta-Mustern zusammenfügen.
All das, was wir mit dem Prädikat „wirklich“ auszeichnen, ist also lediglich etwas, das den in unseren Erinnerungen abgespeicherten Mustern entspricht; und Beobachtungen, die diesen Mustern zuwiderlaufen, bezeichnen wir in der Regel als Täuschungen, sofern sie
überhaupt bis in unser Bewußtsein vordringen und nicht schon vorher herausgefiltert werden.
Diese Akkumulation von Mustern ist ein zeitgebundener, entropischer Prozess, der uns dazu verdammt, die Welt dem thermodynamischen Zeitpfeil folgend wahrzunehmen.

Das zweite Gesetz der Thermodynamik besagt grob, daß die Unordnung in unserem Universum mit der Zeit zunimmt. Auch unser Erinnern, das Zusammenfügen und Speichern von Mustern trägt dazu bei, diese Unordnung zu vergrößern, denn der Vorgang des Ordnens setzt immer mehr ungeordnete Energie frei, als er tatsächlich ordnet.
Aus diesem Grund können wir uns nur an die Vergangenheit erinnern, nicht an die Zukunft, und deshalb ordnen wir unsere Wirklichkeit auch nach dem Prinzip der Kausalität, das die Erscheinungen streng in ein Vorher und Nachher aufteilt.

Doch folgen wir den Erkenntnissen der Teilchenphysik in die Welt der Quanten, müssen wir zu unserem Schrecken einsehen, daß der Stoff, aus dem die Welt gemacht ist, offenbar jenseits von Raumzeit und Kausalität existiert. Dieses wissenschaftlich bisher erfolgreichste Modell einer  ganzheitlichen Wirklichkeit ist für uns nur abstrakt nachvollziehbar, denn wie schon Niels Bohr sagte, wer sich mit der Quantenphysik beschäftigte und dabei nicht verrückt würde, hätte sie nicht verstanden.
Hier wird deutlich, daß bereits die physikalische Bedingtheit unserer Gehirne verhindert, ein vollständiges Bild der Wirklichkeit zu sehen, das unsere Fixierung in der Raumzeit transzendiert.


Diese Fixierung unseres Bewußtseins auf einen definierten Punkt in der Raumzeit, den wir Gegenwart nennen, stellt uns vor ein neues Problem: denn das, was wir Wirklichkeit nennen, beruht auf dem Fundament des Vergangenen, des Erinnerten, und gerade das Vergangene entzieht sich uns in einem Nebel aus Mutmaßungen, da wir uns nur auf den beobachtbaren Ist-Zustand der Gegenwart beziehen können, also auf die gespeicherten Muster.
Es gibt keine zwei Menschen, die identische Sets von Mustern gespeichert haben und entsprechend Ereignisse identisch erinnern könnten. Denn indem wir Erscheinungen stets nur mit Hilfe der bereits in uns vorhandenen Muster wahrnehmen und speichern können,
und die so modifizierten Muster durch folgende Wahrnehmungen weiter überformen, entsteht in jedem von uns ein subjektives, individuelles und völlig autarkes Bild der Vergangenheit.

 
Schließlich sind nur die wenigsten dazu bereit, beim Vergleich gemeinsamer, aber vonein-


Die 07. Ausstellung im Jahresprogramm SPEICHERN | AKKUMULIEREN des EINSTELLUNGSRAUM e.V. 2016
Vernissage
back
next
Gefördert von der Kulturbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg, Bezirk Wandsbek und VG-Bildkunst, Bonn