Es ist schon erstaunlich, dass
sich die einzelnen Töne des Gesangs der Kanarienvögel
phonetisch erfassen lassen, womit die Nachahmung des
Gesangs durch die menschliche Stimme ermöglicht wird.
Den eigentlichen Grund zur Verblüffung liefert aber
Galeanos klingender Nachweis der Präzi- sion dieser
Methode. Technisch gesehen, wird er mittels der
Fast-For- ward-Funktion analoger Tonbandgeräte
ermöglicht, während hier der Zeitraffer der
Videoproduktion das Sprechen der phonetischen Notation
in Vogelgesang umwandelt. Dabei werden die
überlieferten Folgen aus Konsonanten und Vokalen um
den Faktor 6 bis 10 beschleunigt, wodurch die Tonhöhe
der von den Vögeln gesungenen Lieder und Melodien
erreicht wird und die gesprochenen Laute zum
Gezwitscher werden. Die auf diese Weise vorgenommene Umsetzung des Vogelgesangs entspricht der Verschiebung der menschlichen Zeitdimension auf das Zeitmaß der Vögel und umgekehrt. Da ihr Lebensrhythmus gegenüber dem von Menschen beschleunigt ist, verdankt sich die phonetische Umschrift der Fähigkeit, den Laut zu identifizieren und das Phonem dem richtigen Buchstaben zuzuordnen. In menschlicher Tonhöhe gesprochen erhält die phonetische Umschrift den typischen Charakter des Vogelgesangs durch Beschleunigung folglich zurück. Ein Vergleich der Herzfrequenz bestätigt den gesteigerten Rhythmus des Vogellebens, das in Relation zum Menschenleben um einen ähnlichen Faktor, nämlich das 4- bis 10-fache beschleunigt ist. Ein Kolibriherz schlägt je nach Anstrengung 240 - 1200 mal in der Minute, was die vergleichsweise höhere Lebensintensität des Vogels vorstellbar macht. Obgleich die Arbeit Galeanos durch die technische Manipulation von Bandgeschwindigkeiten und Zeitraffer ermöglicht wird, liegt ihre Voraussetzung in der kulturellen Sphäre, also in der Vergangenheit. Als die Menschen noch keine technischen Tonträger kannten, bedienten sie sich der biologischen Tonkonservierung und Reproduktion, weshalb sie Sing- |
vögel in ihren Wohnungen
hielten, wo ihr Gesang das Bedürfnis stillte, das
heute durch Radio, MP 3-Player etc. befriedigt wird.
Noch heute versammeln sich Sonntags in Katalonien
vielerorts Männer in den örtlichen Bars, wohin sie die
Transportkäfige mit ihren Vögeln mitbringen und bei
Getränken und Tapas Fragen des Vogelgesangs, der guten
Haltung und Fütterung der Tiere erörtern. Hier zeigt
sich die Vogelhaltung als ein Gebiet der
Haustierhaltung, die durch zeitgenössische Ansichten
über Leben und Haltung von Tieren zunehmend in Frage
gestellt wird, wodurch dieser Austausch zwischen
tierischer und menschlicher Kultur erschwert wird oder
abzubrechen droht, während die Kenntnisse über den
Vogelgesang - wie hier - auf dem Gebiet der Kunst oder
in der Wissenschaft neu aufgerollt werden.
II. Der Vogelgesang in der Kunst
und der Freie Vers
Der Gesang der Vögel spielt nicht nur in der Tradition der Singvogelhaltung eine überragende Rolle, er hat auch zu einem nicht unbeträchtlichen Teil die Äußerungen der Kunst des 20. Jahrhunderts beeinflusst. Die Freiwortkunst, die ein bedeutender Zweig des Futurismus war, geht - was oft übergangen wird - auf eine Vorgeschichte zurück, die auf der iberischen Halbinsel geprägt wurde. Selbst Futurismus ist eine spanische Begriffsfindung; denn es war Gabriel Alomar, dessen 1905 in Barcelona erschienenes Buch El futurisme der einsetzenden Avantgardekunst im Mittelmeerraum das Stichwort gab.. Unter den vielen Dichtern, die sich mit der Sprache der Vögel befasst haben, ist der russische Futurist Velimir Chlebnikov herauszustellen, weil er nicht nur die Sprache der Vögel, sondern auch die der Sterne zu ergründen suchte, womit er seine Dichtkunst den kosmologischen Grundlagen öffnete. Mittels poetischer Experimente und Überlegungen begab er sich auf die Suche nach einer Kunstsprache, die er ZAUM1 |
1 Ein sehr vielschichtig argumentierender Beitrag von Christian Frisch über die Verbindungen zwischen den künstlerischen Recherchen der Dichter und linguistischen Untersuchungen mit dem Ziel, Ur-Klänge und universelle Silben zu finden, die möglicherweise auf urzeitliche Wortbildungen zurückgehen, setzt bei Chlebnikov an. http://www.cfork.net/archives/archives_reload.html?main=/archives/hfg_theorie/MKworr/mqtext.html (10.08.2010) | |
Dokumentation Andrés
Galeano |
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