Alles im Fluss? Eine Reflektion
Bedeutungsebenen aufzuzählen, die das Auto gerade für die Deutschen als Objekt der Selbstverwirklichung und Identifikation hat, würden den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Doch worin liegt nun genau die Ursache des Konservativismus solcher kulturellen Bedeutungssysteme verborgen? Ihn nur durch die Selbst- reproduktion des kulturellen Bedeutungsmusters zu erklären, wie von Levi-Strauss und dem Strukturalismus postuliert, wird der Sache nicht gerecht.

An dieser Stelle bekommt der ratlose Kulturanthropologe Hilfe von unerwarteter Seite: von der Psychologie, genauer, von der Psycho-Politik, deren Begründer Luigi de Marchi ein zu Unrecht außerhalb Italiens wenig wahrgenommenes Modell der kulturellen Entwicklung des Menschen vorgelegt hat, das gerade zur Interpretation ihrer frühesten Anfänge unvergleichbar wertvolle Ansätze bietet. De Marchi erkennt in der universellen Angst des Menschen vor dem Tod sein ursprüngliches und maßgebliches Trauma, aus dem sich fast alle kulturellen Hervorbringungen ableiten lassen (Di Marchi, „Der Urschock“, 1988*). Alles dient der Todesabwehr, der maso- chistischen oder paranoiden Verarbeitung der Todesangst. Der Konservativismus des Menschen kann dieser Anschauung zufolge dadurch erklärt werden, daß sich der Mensch mit Gesetzen und Wertesystemen identifiziert, die als ewig und unwandelbar gelten. In dem er sich ihnen ganz und gar unterwirft und für ihren Erhalt sorgt, schreibt er sich selbst in ihnen fort. Dadurch kann er in gewissem Sinne der Unsterblichkeit teilhaftig werden. Wird jedoch dieses System von Werten und Glaubenssätzen bedroht, wird die ganze Existenz des Menschen und der Sinn seines Lebens in Frage gestellt. Er kann nur mit einer paranoiden Verteidigung des Status Quo antworten.

Heutzutage hat die Todesangst - wieder einmal - ein globales und konkretes Gesicht bekommen. Als jüngstes, erschreckendes Beispiel sei nur der Öl-Supergau von Deep Water Horizon im Golf von Mexiko erwähnt. Das Bewußtsein des sich vollziehenden Klimawandels und seiner unabsehbar katastrophalen Konsequenzen beginnt sich unmittelbar auf die Handlungsweise des Einzelnen auszuwirken. Die Erkenntnis, nur ein grundlegender Wandel der politischen, sozialen und ökono- mischen Verhältnisse könne das aufziehende Unheil abwenden, macht sich langsam und schmerzhaft breit. Doch scheint diese Erkenntnis gerade für den
Konservativen eine unerträglich peinigende Bedrohung zu sein, die den Sinn seiner Existenz und damit die Effektivität seiner Todesverarbeitung zunichte macht. Nicht nur darum wird die standhafte Leugnung eines Klimawandels fast ausschließlich in konservativen Kreisen verbreitet und verteidigt. Ebenso fühlt sich die Automo- bilindustrie, als ein Verursacher der zerstörerischen Umweltverschmutzung entlarvt, in ihrer Existenz bedroht und reagiert mit paranoiden Strategien. Sie ringt, wider allen Menschenverstand, um den Erhalt einer Technologie, die das globale Desaster mit herbeigeführt hat. Dazu ist sie schamlos genug, der Öffentlichkeit einen modifizierten Verbrennungsmotor als Heilsbringer zu präsentieren, anstatt den Wandel zu einer Technologie zuzulassen, die in der Lage ist, den existentiellen Druck, der auf uns allen lastet, von uns zu nehmen.
Ließe man diese kulturanthropologische Interpretation gelten, läge die „Hybris des Hybriden“ darin: In einer konservativ-paranoiden Verarbeitung der Todesangst einer Industrie, die sich den natürlichen Gesetzen des Werdens und Vergehens ohne Rücksicht auf Verluste versucht, in den Weg zu stellen.

Dr. phil. Thomas J. Piesbergen, September 2010
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*Luigi di Marchi: Der Urschock. Unsere Psyche, die Kultur und der Tod. Luchterhand, Darmstadt 1988
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