Indem das Individuum auf seine Umwelt einwirkt, erzeugt es eine gewisse Ordnung, und da der Mensch auch auf einer materiellen Ebene agiert, ordnet er folgerichtig auch Material und ordnet Dinge. Die vom Menschen geschaffene Ordnung der Dinge wiederum ist einer der entscheidenden Impulse, dem Raum Ordnung zu geben.
Der so geordnete dingliche und räumliche Kontext trägt nun in einer Art Feedbackschleife rückwirkend dazu bei, den Handlungsstil zu entwickeln und damit Handlungs- und Ordnungs-muster zu reproduzieren. Da diese Reproduktion sich aber immer nur auf der Ebene des akut handelnden Individuum abspielt, geschieht sie auf eine jeweils spontane individuelle Weise, wodurch sich auch die kollektiven Kontexte schließlich langsam wandeln.

Verpflanzt man ein Individuum in einen neuen Kontext bedeutet das, der Handlungstheorie zufolge, dass sich auch die Identität des Menschen notgedrungen verändern muss, da er innerhalb anderer räumlicher und dinglicher Muster agiert und seine Handlungsweise sich entsprechend verändert.
Das kann zunächst nur durch Improvisation geschehen, bis sich durch fortdauerndes Handeln die habituellen Muster unter den neuen Gegebenheiten soweit verändert haben, dass sie neue konsistente Muster und Routinen hervorbringen, eine neue kulturelle Praxis, mit der sich das Individuum eine neue Ordnung der Dinge und einen neuen räumlichen Bezug erarbeitet hat: eine neue und stabile individuelle Identität.


Das akute Wechselspiel zwischen Mensch, Identität, Material und Raum hat Lior Eshel bereits vor ihrem Umzug von Tel Aviv nach Hamburg beschäftigt, es war also naheliegend, daß sie dieses Thema in ihrem freiwilligen Exil nun weiter vertieft, natürlich auch im Bewußtsein der gegenwärtigen Bedeutung des Exildaseins als globale Erscheinung.
Dementsprechend hat sie ihren Fokus nicht auf kulturelle Stereotypen und andere Aspekte vordergründig postulierter kultureller Identität gerichtet, die sie in Beziehung zueinander setzt, sondern sie fragt nach dem grundsätzlichen akuten Agieren in einem fremden Kontext, nach dem Handlungsspielraum, dem Raum, den z.T. fremden Materialien und ihrer Verfügbarkeit und der Konstruktion von Identität unter liminalen Bedingungen.

Ausgangspunkt für ihr künstlerisches Agieren ist zunächst die Erkundung der neuen Umgebung durch das Verfahren des Umherschweifens, das „Dérive“. Diese Strategie wurde schon von den Mitgliedern der Situationistischen Internationalen, allen voran Guy-Ernest Debord, entwickelt, und steht in engem Zusammenhang mit dem Konzept der Psychogeographie, die dem meist urbanen Kontext eine psychische Dimension zuschreibt und danach fragt, wie Raum erlebt wird und welche individuelle, psychologische Bedeutung er dadurch gewinnt.

Der Umherschweifende bewegt sich ziellos und intuitiv durch den Raum, läßt sich von den Bewegungen der Umgebung und ihren Zufälligkeiten leiten und setzt das Erlebte ganz bewußt mit dem wahrnehmenden Subjekt, also der eigenen psychischen Disposition in Beziehung.
So entsteht ein Verfahren, in dem sich die Hingabe an den räumlichen Zusammenhang und ein entsprechendes Sich-passiv-darin-Lösen verbindet mit einer aktiven Erforschung eines unbekannten Zusammenhangs und der Positionierung des Selbst in diesem Zusammen- hang. Das Umherschweifen stellt also die Reinform des ergebnisoffenen Reisens dar und dient gleichzeitig der Konstruktion von Identität.

In einem ersten Schritt dokumentierte Lior Eshel ihre Streifzüge mit einfachen Handy-Photos.

Da sie gezwungen ist, zunächst unter prekären Umständen zu arbeiten, entschied sie sich in einem zweiten Schritt dazu, mit Materialien und Gegenständen zu arbeiten, die sie auf ihren Erkundungsgängen gefunden hat, die also von dem neuen Kontext, in dem sie sich bewegt, abgesondert werden.
Dieses Verfahren, mit spontan gefundenen Materialien zu arbeiten und sie zu etwas Neuem zusammen zu fügen, wurde von dem Ethnologen Claude Levi-Strauss als „Bricolage“ bezeichnet und soll eine klare Abgrenzung zur Praxis des planenden Ingenieurs darstellen, der zur Bewältigung von Problemen auf vorgefertigte, hochspezialisierte Werkzeuge zurück-greift.

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Vernissage
Die 5. Ausstellung zum Jahresprogramm (Keine) Wendemöglichkeit 2018 des EINSTELLUNGSRAUM e.V.

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