Leben und Sterben im Licht der Geschwindigkeit
Johannes Lothar Schröder zur Ausstellung EREIGNISHORIZONT von Adriane Steckhan

10 Ausstellungen mit Installationen, Fotos, Videos, Zeichnungen und konzeptuellen Ansätzen sowie vier Performances mit einem Vortrag und einer Lesung haben dieses Jahr gezeigt, dass Bremsen ein Thema der Kunst ist; und vielleicht liegen sogare die Wesenszuege der aufgefuehrten Praesentationen nicht nur im Vorauseilen sondern auch im Verschleppen von Entwicklungen. Als vor knapp 100 Jahren die Futuristen den Geschwindigkeitskult in der Kunst ausgerufen haben, reagierten sie zwar auf die Beschleunigung des Alltags durch Motorisierung, doch im Vorwort zum Gründungsmanifest des Futurismus* ließ Filippo Tommaso Marinetti den Ich-Erzähler schon wegen zwei Radfahrern so ungeschickt bremsen, dass er "...mi scaraventai colle ruote all'aria in un fossato...." (mit den Rädern nach oben, in einen Graben)*, landete, wo er sich mit seinen erotischen Phantasien im schwarzen Schlamm eines Industriegebietes wiederfand. So einer Landschaft könnten einige der hier von Adriane Steckhan ausgestellten fotografischen Objekten mit ihren dunklen Schattezonen und den Linien, welche die Lichter von Fahrzeugen bei langen Belichtungszeiten hinterlassen,  entstammen.
Mit den literarischen Bildern des Dichters und den fotografischen der Künstlerin werden Bewegungen zum Stillstand gebracht. Und wenn man zurückblickt in die Geschichte der Darstellung von Bewegungen, fällt auf, dass bildende Künstler eigentlich schon immer das Tempo heruntergefahren haben, um etwas Bewegtes mit den in den Zeiten sich wandelnden Mitteln darzustellen. Das gilt bis heute, selbst wenn wir es mit schnellen Technologien zu tun haben, die uns elektronische Bilder im Moment ihres Entstehens zur Verfügung stellen. Aber so schnell auch die Möglichkeiten der Bildherstellung sein mögen,  immer ist die Zeit, die für die Fertigstellung eines Bildes benötigt wird, gegenüber dem Augenblick der für bildwürdig befunden wurde, zu lang. Man kann zugespitzt sagen, dass sich Künstlerinnen und Künstler immer schon Mittel einfallen lassen mussten, um komplexe Vorgänge möglichst schnell vorzeigbar zu machen. Kurz: Zeitdruck und Verzögerungen sind die Faktoren, die zum Tragen kommen, wenn KünstlerInnen mit der Zeitdauer zwischen einem Ereignis und seiner bildlichen Fixierung umgehen müssen. Zunächst gilt es, die Erwartungen der Kunden zu bremsen,  denn es konnte schon vor Jahrhunderten etwas länger dauern,
ein Historienbild fertig zu stellen, während es die Auftraggeber nicht erwarten konnten, ihren Ruhm  verewigt zu sehen.
Selbst die Futuristen brauchten ein paar Jahre, bis es einem von ihnen gelang, ein vorbeifahrendes Auto auf die Leinwand zu bannen. Das Verb spricht ja diesen Vorgang des Malens schon an, und es klingt so, als müssten Künstler magische Fähigkeiten aufwenden, um einem Augenblick eine Dauer zu geben. Diese Herausforderung geht auf ältere künstlerische Anstrengungen zurück, die darin bestehen konnten, einen sinnlich wirksamen Augenblick festzuhalten. Je nachdem, ob es um Gerüche oder Augenblicke gesteigerter Empfindsamkeit ging, wünschten sich Auftraggeber sowie Maler, Dichter oder Komponisten, diesen in ihren Werken Beständigkeit verleihen zu können oder die Wiederholbarkeit solcher Momente zu gewährleisten.


Augenblicklichkeiten

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Die entsprechenden Formen und Ansstrengungen im audiovisuellen Kunstschaffen hätten sich eigentlich nach dem Aufkommen von magnetischen und elektronischen Aufzeichnungsverfahren für Bild und Ton erübrigen müssen, denn zeitliche Prozesse können seitdem durch Druck auf den Auslöser eines geeigneten Apparates jederzeit abgebildet werden. Dass dieses allein noch nicht zu einem aussagekräftigen Ergebnis führen muss, liegt an den  ästhetischen Bedingungen, die mehr als einen bloßen technischen Vorgang benötigen. Nicht nur im passenden Moment muss ausgelöst werden, sondern auch Blickwinkel, Komposition, Kontrast und die vielen anderen Bedingungen ästhetischer Wirksamkeit - darunter auch die der Public Relation - müssen erfüllt sein, damit der betreffende Augenblick auch von Unbeteiligten erkennbar wird.

Solche Gründe erklären auch, dass nach dem futuristischen Manifest die ersten adäquaten Werke erst mit einigen Jahren Verzögerung vorgelegt wurden. Zunächst sind nicht einmal Automobile bildwürdig, weil 1911vorrangig Straßenszenen mit Tram, Pferdekutschen und Fußgänger unter gleißendem Gaslicht gemalt werden. Während die Maler auf nachimpressionistische Methoden zurückgriffen, versuchten die Dichter und Musiker wie Filippo Tomaso Marinetti und Luigi Russolo mit extrem kurzen und lauten Performances, die Augenblicklichkeit selbst zum Bestandteil ihrer Theater- und Musikperformances zu machen. Das hieß aber zugleich auch, dass sie sich zur Vermittlung von emotionalen Anflügen technischen Vorgängen zuwandten, die den zunehmenden plötzlichen Ereignissen im Leben entsprachen.
* F.T. Marinetti, aus dem Vorwort zum 1. Futuristischen Manifest, 1909,  Le Figaro, Paris
Vernissage
Gefšrdert von der Kulturbehšrde der Freien und Hansestadt Hamburg und Bezirksamt Wandsbek
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