Untote Zeit in der Sozialwurst 

Lose Gedanken zu den Orten des ÖPNV als sozio-kultureller Raum

 

Dr. Thomas Piesbergen

 

Als ich bei meiner Rückkehr von einem längeren Arbeitsaufenthalt in Äthiopien um 7:00 morgens in der Frankfurter U-Bahn stand, erlitt ich etwas, worauf ich bei meiner Ankunft in Äthiopien vergeblich gewartet hatte: einen Kulturschock.

 

Die nach 2 Monaten afrikanischer Erfahrung verschobene Perspektive auf den vorge-fundenen Zustand der Menschen ermöglichte mir, Verhaltensstrukturen zu erkennen, für die wir in der Regel blind sind, da sie unser Selbstverständnis und unseren Standpunkt aus- machen, von dem aus wir Dinge beobachten und beurteilen - sie sind unser blinder Fleck.

 

Das, was ich sah, waren lauter Menschen, die nicht an dem Ort waren, an dem ihre Körper sich befanden. Zudem schien niemand zu begreifen, was für eine Außenwirkung er seinen Mitmenschen zumutete, wie durch unkontrollierte Gestik und Mimik persönliche Intimität entgrenzt wurde, d.h. niemand schien sich bewußt zu sein, wieviel persönliches Leid, Frustration, Schmerz, Hass, Trauer und Apathie sich durch Gesichtsausdruck und Körper-sprache vermittelte.

 

Niemand sah den anderen an und niemand schien daran zu denken, er selbst könne gesehen werden. Niemand war dort, wo der eigene Körper war. Nahezu jedes Mitglied unse- res Kulturkreises wird wohl diesen Zustand der Abwesenheit aus eigener Anschauung und Erfahrung kennen.


Erst durch diese wirklich schockierende Beobachtung wurde mir klar, was den habituellen Unterschied zwischen Deutschland, stellvertretend für die mediale, postindustrielle Gesellschaft, und Äthiopien, stellvertretend für eine noch weitgehend prä-mediale Gesellschaft, ausmacht, und wie gravierend dieser Unterschied ist. 

Ich hatte dort im Berufsverkehr um 7:00 morgens in der Frankfurter U-Bahn in reinster Gestalt das erlebt, was Richard Sennett als die Tyrannei der Intimität bezeichnet, die dem Verfall und Ende des öffentlichen Lebens folgt.

Sobald in Äthiopien zwei Menschen sich begegnen, entsteht soziale Interaktion. Will ein Mensch etwas über die Welt wissen, ist er auf andere Menschen angewiesen, da es so gut wie keine Zeitungen oder Bücher gibt. Radios sind selten, Fernseher kaum zu finden und zudem fast immer nur an öffentlichen Orten. 

Völlig unvorstellbar wäre dort ein Rückzug in den individuellen Raum der eigenen vier Wände, der noch vor wenigen Jahren in unserer Gesellschaft unter dem hippen Neologis- mus „Cocooning“ als neuer, erstrebenswerter Lifestyle angepriesen wurde.

Dieser Rückzug in die Isolation des Individuellen, in die „Tyrannei der Intimität“ ist in der etwa 2 Millionen Jahre währenden Geschichte der Menschheit nur den Bruchteil eines Augenblicks alt und kann angesichts der in diesem Zeitraum sich gefestigten natürlichen Bedürfnisse und „natürlichen“ Verhaltensmustern des Menschen als pathologische Abweichung angesprochen werden, deren totale Eskalation wir derzeit in Form der Abwan-derung des Menschen in die digitale Realität beobachten können.

 

 

Doch kommen wir zurück zu der Situation, in der ich mich damals in der Frankfurter U-Bahn befand: Ich war Teil einer temporären Zwangsgemeinschaft, gekennzeichnet durch ein gegenseitiges Ignorieren, eingesperrt in einem länglichen Raum, der die Funktion hatte, diese sich einander fliehenden Menschen zu transportieren. 

Dieser Raum, den meine Mitreisenden ebenfalls versuchten so gut es ging zu ignorieren, ist Teil eines gewaltigen Systems von architektonischen Un-Orten, in denen die meisten Menschen der postindustriellen, medialen Gesellschaft einen nicht unbeträchtlichen Teil ihrer Lebenszeit verbringen - wenigstens physisch.

 

Aus anthropologischer Perspektive, die immer die zeitliche Tiefe menschlicher Kultur einschließt, kann Architektur immer nur unter zwei Gesichtspunkten betrachtet werden: als Träger von Funktion und als Träger von sozio-kultureller Bedeutung. Vor allem ihre Eigenschaft als Träger von Bedeutung macht sie auf vielen verschiedenen Wirkebenen zu einem essentiellen Teil der menschlichen non-verbalen Kommunikation.

Und sie ist nur zu begreifen als eine „strukturierende Struktur“, d.h. daß sie einerseits vom Menschen nach seinen kulturellen Bedürfnissen gestaltet wird, und daß sie andererseits hilft, die kulturellen Strukturen wiederum zu reproduzieren.
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